Süddeutsche Zeitung Junge Bibliothek:Band 19: Steinadler von John Reynolds Gardiner

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Eines Tages stand Großvater morgens nicht auf. Er lag nur da und blickte an die Decke und sah traurig aus. Zuerst dachte der kleine Willy, dass er spielte.

Willy lebte bei seinem Großvater auf einer kleinen Kartoffelfarm in Wyoming. Auf einer Kartoffelfarm zu leben bedeutete harte Arbeit, aber auch eine Menge Spaß. Besonders wenn Großvater Lust hatte zu spielen. Wie damals, als Großvater sich wie die Vogelscheuchen draußen im Garten verkleidete. Es dauerte eine ganze Stunde, bis Willy dahinter kam. Junge, hatten sie gelacht. Großvater lachte so furchtbar, dass er weinte. Und wenn er weinte, lief ihm der Bart voll Tränen. Großvater stand morgens immer sehr früh auf. So früh, dass es draußen noch dunkel war. Er machte Feuer. Dann machte er Frühstück und rief Willy. "Beeil dich oder du kannst mit den Hühnern essen", sagte er immer.

(Foto: N/A)

Dann warf er den Kopf zurück und lachte. Einmal schlief Willy wieder ein. Als er aufwachte, fand er seinen Teller draußen im Hühnerhof. Er war leer gepickt. Danach verschlief er nie wieder. Das heißt... ... bis heute morgen. Aus irgendeinem Grund hatte Großvater vergessen ihn zu rufen. Dann entdeckte Willy, dass Großvater noch im Bett lag. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben. Großvater spielte. Dies war wieder ein Streich. Oder nicht? "Steh auf, Großvater", sagte Willy. "Ich mag nicht mehr spielen." Doch der Großvater antwortete nicht. Willy rannte aus dem Haus. Auf der Veranda schlief ein Hund. "Komm, Spürnase", rief Willy. Der Hund sprang auf, und sie rannten zusammen die Straße hinunter.

Spürnase war eine große schwarze Hündin. Sie hatte einen weißen Fleck auf der Stirn, der so groß wie ein Silberdollar war. Sie war alt - tatsächlich war sie am selben Tag geboren wie Willy, und das war mehr als zehn Jahre her. Als sie einen Kilometer gelaufen waren, kamen sie zu einem kleinen Blockhaus, das von hohen Bäumen umgeben war. Unter einem der Bäume saß Frau Doktor Smith in einem Schaukelstuhl und las. Frau Doktor Smith wurde von allen Doc Smith genannt. "Doc Smith", stieß Willy hervor. Er war außer Atem. "Kommen Sie schnell." "Was ist los, Willy?", fragte die Ärztin und las weiter. Doc Smith hatte schneeweißes Haar und trug ein langes schwarzes Kleid. Ihre Haut war gebräunt und ihr Gesicht war voller Falten. "Großvater gibt keine Antwort", sagte Willy. "Er macht sicher wieder nur Spaß", erwiderte Doc Smith. "Kein Grund zur Aufregung." "Aber er liegt noch im Bett." Doc Smith blätterte eine Seite um und las weiter.

"Wie lange seid ihr beide gestern Abend aufgeblieben?" "Wir sind früh zu Bett gegangen, wirklich früh. Ohne zu singen oder Musik zu machen oder sonst was." Doc Smith hörte auf zu lesen. "Dein Großvater ging zu Bett, ohne Mundharmonika zu spielen?" Willy nickte. Doc Smith klappte ihr Buch zu und stand auf. "Spann Rex für mich ein, Willy", sagte sie. "Ich hole meine Tasche." Rex war Doc Smiths Pferd - ein schönes Tier. Willy spannte Rex ein, und dann fuhren sie zu Großvaters Farm zurück. Spürnase rannte den ganzen Weg vor ihnen her und bellte. Es machte ihr Spaß, sich richtig auszulaufen. Großvater lag noch genauso da. Er hatte sich nicht gerührt. Spürnase setzte ihre großen Vorderpfoten auf das Bett und legte Großvater den Kopf auf die Brust. Sie leckte seinen Bart, der voller Tränen war.

(Foto: N/A)

Doc Smith fing an Großvater zu untersuchen. Sie benutzte beinahe alles aus ihrer kleinen schwarzen Tasche. "Wozu ist das?", fragte Willy. "Was machen Sie jetzt?" "Musst du so viele Fragen stellen?", sagte Doc Smith. "Großvater sagt, ich soll so viele Fragen stellen, wie ich will." Doc Smith zog einen langen silbernen Gegenstand aus ihrer Arzttasche. "Wofür ist das?", fragte Willy. "Pssst." "Ja. Entschuldigung." Als Doc Smith mit dem Untersuchen fertig war, legte sie alles in ihre kleine schwarze Tasche zurück. Dann trat sie ans Fenster und sah auf das Kartoffelfeld hinaus. Einen Augenblick später fragte sie: "Wie stehen die Kartoffeln dieses Jahr, Willy?" "Großvater sagt, so gut wie noch nie."

Doc Smith fuhr sich mit einer Hand über das faltige Gesicht. "Was fehlt ihm?", fragte Willy. "Schuldet ihr irgendjemandem Geld?", fragte sie. "Nein!", antwortete Willy. "Was fehlt ihm? Warum wollen Sie mir nicht sagen, was ihm fehlt?" "Das ist es ja gerade", sagte sie. "Ihm fehlt nichts." "Sie meinen, er ist nicht krank?" "Er ist so gesund wie ein Ochse. Könnte hundert werden, wenn er wollte." "Das verstehe ich nicht", sagte Willy. Doc Smith holte tief Luft. Und dann begann sie: "So ist es, wenn ein Mensch nicht mehr mag. Nicht mehr leben mag. Aus welchem Grund auch immer. Fängt zuerst in seinem Bewusstsein an, dann geht es auf den Körper über. Es ist schon eine richtige Krankheit. Und die Heilung kann nur aus dem Bewusstsein des Menschen selbst kommen. Es tut mir leid, Kind, aber es scheint, dass dein Großvater einfach nicht mehr leben mag." Willy schwieg lange, bevor er sprach. "Aber wie ist es mit Angeln ... und Rodeo ... und Truthahnbraten? Möchte er all das nicht mehr?" Großvater schloss die Augen, und Tränen rannen ihm über die Wangen und verschwanden in seinem Bart.

"Ich bin sicher, dass er das möchte", sagte Doc Smith und legte den Arm um Willy. "Es muss etwas anderes sein." Willy starrte auf den Boden. "Ich werde es herausfinden. Ich werde es herausfinden, was verkehrt ist, und es wieder in Ordnung bringen. Sie werden sehen. Ich werde Großvater dazu bringen, dass er wieder leben will." Und Spürnase bellte laut.

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