Südasien:Stämme, die den Fluten trotzten

Lesezeit: 3 min

Sie überlebten auf den Hügeln und wurden umgesiedelt — die Ureinwohner der Nikobaren und Andamanen und die so genannte Zivilisation.

Von Manuela Kessler

Man könnte es als typischen Ehezwist bezeichnen, hätte die Auseinandersetzung nicht Folgen für das ganze Volk. König Jiroki will sich gegen Epilepsie behandeln lassen. Gattin Sunmayee ist alles andere als begeistert. Vor wenigen Tagen noch wusste er nicht einmal um diese Krankheit.

Landkarte zur Inselgruppe der Andamanen und Nikobaren. (Foto: Foto: Reuters)

Spitalbehandlung war ihm fremd, bevor Militärhubschrauber ihn und seine Angehörigen nach der Flutkatastrophe evakuierten. Die indischen Ärzte in Port Blair, dem verschlafenen Hauptort der Andamanen und Nikobaren, hatten alle Mühe dem kleinwüchsigen und schwarzhäutigen Mann zu erklären, dass seine tranceartigen Anfälle auf Bewusstseinsstörungen zurückzuführen sind.

Der Stammesführer der Großen Andamanesen spricht nämlich eine eigene Sprache. Über die Eingeborenen auf der indischen Inselgruppe weiß man wenig. Einer Kette gleich liegen die Andamanen und Nikobaren vor der Küste Birmas, zwei Flugstunden und 1200 Kilometer vom Subkontinent entfernt.

Abgeschieden und abgeschottet

Abgeschieden von der Welt und abgeschottet von den Behörden, lebten hier die sechs Volksstämme in Reservaten, ehe die Fluten das Archipel verwüsteten. Die amtliche Bilanz weist 1300 Tote, 5544 Vermisste und 55.000 Vertriebene auf der Inselgruppe aus, die 350.000 Menschen beheimaten. Knapp ein Zehntel von ihnen sind Stammeszugehörige.

DNS-Analysen legen nahe, dass die negroiden Ureinwohner auf den Andamanen -die Onge, Jarawa, Sentinelesen und Großen Andamanesen - vor 70.000 Jahren aus Afrika kamen. Es sind Steinzeitmenschen wie die mongoliden Nikobaresen und Shompen auf den benachbarten Nikobaren, deren Sprachen verwandt sind mit dem Kambodschanischen.

Die so genannte moderne Zivilisation erreichte die Inselgruppe im Golf von Bengalen Mitte des 19. Jahrhunderts. 5000 Mitglieder zählte der Stamm der Großen Andamanesen, als die britische Krone das Archipel unterwarf. Die kannibalischen Ureinwohner verteidigten ihre Jagdgründe mit Pfeil und Bogen gegen Vorderlader und Kanonen. Vernichtend wurden sie geschlagen.

Die abgelegenen Inseln waren in den Augen der britischen Kolonialverwaltung ein idealer Ort für eine Strafkolonie, auf Kriminelle ließ sie indische Freiheitskämpfer folgen. Eine Volkszählung wies vor hundert Jahren 1947 Gefangene, 1168 Beamte und 2991 freie Einwohner in dem Gebiet aus, das halb so groß ist wie Thüringen. Die Jäger und Sammler zählten nicht.

Wo die Ureinwohner der Entwicklung entgegenstanden, wurden sie einfach in den Dschungel abgedrängt. Die indische Unabhängigkeit änderte daran kaum etwas. Die Regierung in Delhi wacht zwar darüber, dass nicht zu viele Touristen das Archipel besuchen, das als weitgehend unberührtes Naturparadies gilt. Regenwald überwuchert die Hügel, Mangroven säumen die Ufer und in den Buchten liegen Korallenriffe. Nur drei Dutzend der insgesamt 572 Inseln sind bewohnt.

Giftpfeile und Wurzelwerk

Die Regierung in Delhi gab noch in den 70er-Jahren die Order aus, die Eingeborenen "zu kontrollieren und zu zähmen". Straßen durchschneiden da und dort die Reservate. Indische Siedler rücken den Ureinwohnern mit beängstigender Geschwindigkeit immer näher.

Nur noch 50 Angehörige, erklärt König Jiroki einem indischen Journalisten, umfasse sein Stamm, zehn von ihnen seien seine Kinder. Zwangsumsiedlungen und Masern, Syphilis und Grippe haben die Großen Andamanesen böse dezimiert.

Die gewaltigen Flutwellen überlebten alle unbeschadet, versichert das Stammesoberhaupt. Als die Erde bebte auf seiner kleinen Insel, die wenige hundert Kilometer nördlich des Epizentrums vom 26. Dezember liegt, habe er seinem Stamm befohlen, auf die Hügel zu fliehen. Hunger hätten sie im Dschungel gelitten. "Reis und Brot", sagt seine Frau Sunmayee, "essen wir seit einigen Jahren statt Wurzelwerk."

Die Männer hätten die Jagd mit Giftpfeilen und Bogen aufgegeben. "Mit Speeren jagen sie heute Fische und Wildschweine." Die Fluten hätten jedoch all ihr Hab und Gut weggeschwemmt. "Das Wasser stieg so schnell. Es schien uns zu verfolgen."

Fast alle Stämme haben die Naturkatastrophe nach Einschätzung der indischen Behörden praktisch ohne Todesopfer überstanden. Die Ausnahme sind die Nikobaresen, das weitaus größte Volk, dessen 27000 Angehörige christlichen Glaubens sich weitgehend angepasst haben an die indische Gesellschaft.

Die Evakuierungsaktion des indischen Militärs hat nun auch andere Eingeborene aus ihrem traditionellen Lebensstil gerissen. Einzig zwei Stämme, die nur noch ein paar Dutzend Mitglieder umfassen, entzogen sich dem Zugriff der Rettungsteams. Die scheuen Shompen ergriffen die Flucht vor den Helikoptern, die kriegerischen Sentinelesen beschossen sie mit Steinen und Speeren. Ob ihre Inseln genügend Nahrung und Trinkwasser zum Überleben bieten, ist ungewiss.

Ökologen warnen, dass die Unmengen an Salzwasser, welche die flachen Inseln überfluteten, das natürliche Gleichgewicht aus den Fugen gebracht hätten. Sand und Trümmer erstickten die Mangroven und Korallen. Die küstennahen Fischgründe der Eingeborenen, deren Einbäume nicht taugen für die hohe See, sind den Naturwissenschaftlern zufolge vielerorts schwer gestört.

Das indische Militär hat viele der Stammesbewohner in eilig errichteten Auffanglagern um Port Blair herum untergebracht. Das nackte Grauen ergreift Sunmayee angesichts dieser Zukunftsperspektive. Sie will so schnell wie möglich zurück in den Dschungel. Ihr Gatte will davon aber nichts wissen.

König Jiroki, neu eingekleidet mit rotem T-Shirt und gestreiften Shorts, genießt die Aufmerksamkeit, die ihm das Spitalpersonal angedeihen lässt: "Es ist schön, die Welt kennen zu lernen", befindet der rundliche Mann. Bislang habe er seine ganze Energie auf die Jagd verwendet. "Es gab bei uns kein Fernsehen, nichts."

© SZ vom 12.1.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: