Studie:Völlig gelähmt, aber zufrieden

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In einem bewegungslosen Körper geht es vielen Patienten überraschend gut: Der Kontakt zu Freunden und Angehörigen gibt vielen die Kraft zum Weiterleben.

Von Georg Rüschemeyer

Gegen Ende regt sich nur noch ein Augenlid oder der Schließmuskel. Nach dem Verschwinden dieser letzten Lebenszeichen scheint der Patient im Koma zu liegen, doch in Wirklichkeit erlebt er den Verlust seines Kontakts zur Außenwelt bei vollem Bewusstsein mit.

Als Locked-in (Eingesperrt-Sein) bezeichnet die Medizin diesen Zustand, in den Schlaganfallopfer ebenso geraten können wie Patienten mit der Nervenerkrankung Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Für Gesunde ist es ein unvorstellbarer Albtraum, doch die Kranken genießen ihr eingeschlossenes Leben offenbar immer noch, wie Psychologen von der Universität Tübingen jetzt herausgefunden haben.

Dass ein Patient an ALS erkrankt ist, macht sich anfangs meist nur als fehlendes Fingerspitzengefühl bemerkbar. Doch nach und nach verliert der Patient wegen der fortschreitenden Zerstörung seiner motorischen Nerven die Kontrolle über sämtliche Muskeln seines Körpers. Dazwischen liegen meist wenige Jahre, nur in einigen Fällen verlangsamt sich der Verfall oder kommt ganz zum Stillstand, wie bei dem britischen Astrophysiker Stephen Hawking, der seit über 40 Jahren an ALS leidet.

Schreiben mit dem Augenlid

Hawking bedient seinen Kommunikationscomputer mit dem Finger, andere Patienten nutzen dafür die Beweglichkeit der Augen, die oft lange erhalten bleibt. So hat der ehemalige Chefredakteur der Zeitschrift Elle, Jean-Dominique Bauby, nach einem Schlaganfall ein ganzes Buch ("Schmetterling und Taucherglocke") diktiert, indem er für jeden Buchstaben mit dem Augenlid zuckte.

"Dennoch geht es den Patienten besser, als sich das ein Gesunder vorstellen kann", sagt der Psychologieprofessor Niels Birbaumer. Seine Mitarbeiterin am Institut für medizinische Psychologie der Universität Tübingen, Andrea Kübler, hat in einer noch unveröffentlichten Studie ALS-Patienten nach ihrer Lebensqualität befragt.

Von den 76 Befragten litten manche durchaus unter schweren Depressionen, wie sie durch Zwinkern mitteilten. Doch im Durchschnitt hatten die Patienten nur milde Depressionen und waren mit ihrer Lebensqualität weitgehend zufrieden.

Viel zu negatives Bild

"Natürlich sind Fragebögen nur ein grobes Messinstrument für den seelischen Zustand eines Patienten, aber die Ergebnisse bestätigen unsere Erfahrungen aus der Arbeit mit ALS-Betroffenen", sagt die Biologin und Psychologin Kübler. "Trotz der grausamen Krankheit und der Abhängigkeit von Maschinen empfinden die Allermeisten ihr Leben als lebenswert." Der Kontakt zu Freunden und Angehörigen gebe vielen die Kraft zum Weiterleben.

Kübler hat für ihre Arbeit einen speziellen Fragebogen entwickelt. "Die gängigen Tests zeichnen ein übertrieben düsteres Bild, weil sie Fragen nach Appetit und Bewegungsdrang enthalten, die für künstlich ernährte und beatmete Patienten einfach nicht mehr relevant sind", erklärt sie. Dadurch ergäbe sich ein viel zu negatives Bild.

Niels Birbaumer beklagt denn auch, dass die Patienten nicht korrekt über ihre Perspektiven und die Erfahrungen anderer Betroffener aufgeklärt würden. "Ärzte und Angehörige reden ihnen ein, dass ein Leben in Abhängigkeit von Maschinen nicht mehr lebenswert sei." Deshalb unterschrieben viele im Laufe ihrer Krankheit, dass sie nicht künstlich beatmet werden wollen, wenn ihre Atemmuskulatur versagt.

"Wenn es soweit ist, werden 95 Prozent nicht beatmet und ersticken", beklagt Niels Birbaumer. Er würde solche Patientenverfügungen am liebsten zerreißen, denn seiner Meinung nach wussten die Patienten beim Unterschreiben nicht, was sie tun.

Am schwersten ist der Verlust der Selbstständigkeit

Dass Menschen mit ALS oft erstaunlich positiv mit ihrem Schicksal umgehen, bestätigt auch Thomas Meyer, Leiter der ALS-Ambulanz an der Berliner Charité. Doch Birbaumers Generalverdacht, dass unwissende Patienten sinnlos in den Tod getrieben würden, mag er nicht zustimmen. "Wer über Jahre hinweg den Verfall seines Körpers und seiner Selbstständigkeit erlebt, kann sehr wohl beurteilen, welche Perspektive er noch in einem künstlich beatmeten Leben sieht."

Ob ein Patient die Kraft finde, einen alternativen Lebensentwurf mit der Krankheit zu entwickeln, hänge stark von der Persönlichkeit und den bisherigen Lebensinhalten ab. Da habe es ein Kopfmensch wie der Astrophysiker Hawking leichter als ein ehemaliger Leistungssportler. Am schwersten sei für die Betroffenen meist nicht der tödliche Ausgang ihrer Krankheit zu ertragen, sondern der Verlust von Autonomie und Kommunikation.

"Deshalb nehmen in Holland 20 Prozent der ALS-Patienten, aber nur fünf Prozent der unheilbar Krebskranken die dort mögliche aktive Sterbehilfe in Anspruch", sagt Meyer.

In Zukunft können Locked-in-Patienten womöglich noch selbstständig Entscheidungen fällen, wenn ihre Muskeln zur Kommunikation nicht mehr fähig sind. Das zumindest ist eines der Ziele von Birbaumers Tübinger Team. Sie suchen die Mitteilungen, die der im erstarrten Körper eingesperrte Geist nicht mehr mitteilen kann, direkt im Gehirn: Über willentlich gesteuerte Änderungen in den Kurven ihres Elektroenzephalogramms lernen Birbaumers ALS-Patienten, auf einer virtuellen Tastatur zu schreiben. Bis ein Buchstabe aus dem Alphabet ausgesucht ist, vergeht zwar etwa eine halbe Minute - aber Tasten, Schalter und Bewegungen werden überflüssig.

Als Gedankenlesegerät oder "Thought Translation Device" (TTD) bezeichnet Birbaumer seine Erfindung vollmundig, doch die endgültige Bewährungsprobe steht noch aus. "Bisher ist zur Kommunikation keiner unserer Patienten ausschließlich auf das TTD angewiesen, sie können die virtuelle Tastatur auch noch anders, etwa mit dem Augenlid, bedienen", sagt Birbaumer. Das frühe Üben mit der Gedankentastatur sei aber notwendig.

Denn für Patienten, die sich bereits im Locked-in-Zustand befinden, ist es wohl zu spät, befürchtet Birbaumer: "Alle unsere Versuche, mit totalen Locked-ins Kontakt aufzunehmen, sind bisher gescheitert."

© SZ vom 8.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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