Die Puppenbauer der amerikanischen Jim Henson Company basteln seit Jahrzehnten allerlei Knuddelfiguren und Flauschmonster zusammen, die eigentlich fürs Fernsehen gemacht sind, aber im Laufe der Zeit ein Eigenleben jenseits ihres Mediums zu führen beginnen.
Ernie und Bert aus der Sesamstraße zum Beispiel wurden Ende der Achtziger von der Schwulenbewegung als erste bekennende Homosexuelle der TV-Geschichte gefeiert, und nach dem 11. September griff dieser Bert sogar kurzzeitig in die Weltpolitik ein. In Bangladesh hatten Anhänger Osama bin Ladens ein Transparent ausgerollt, auf dem nicht nur Bin Ladens bärtiges, sondern auch Berts gelbliches Gesicht abgebildet war. Die Terrorfreunde hatten das Foto von einer Witzseite im Internet heruntergeladen und einfach vergessen, den Puppenkopf rauszuretuschieren.
Ein Versäumnis mit beinahe fatalen Folgen: Bert galt kurzzeitig als Sympathisant des Bösen, und um ein Haar wäre neben Afghanistan und dem Irak auch die Sesamstraße bombardiert worden.
Also, die Figuren aus Hensons Werkstatt sind Charaktere, auf die die Welt schaut. Deshalb wird auch der Löwe ein Star werden, den die Puppenbauer gerade erfunden haben, für die Fußball-WM 2006 in Deutschland. Er heißt Goleo und ist das Maskottchen und Kennzeichen dieser Weltmeisterschaft, aber als er am Samstag in der Fernsehshow Wetten, dass...? erstmals aus den Kulissen trat, war die Verwirrung ziemlich groß, mindestens so groß wie der Löwe selbst, und der misst zwei Meter dreißig.
Warum keine weiße Maus aus dem Bierglas eines siegtrunkenen deutschen Fußballfans? Warum kein röhrender Hirsch aus der Vereinskneipe eines tapferen Verbandsligisten? Warum wirkt der Bart des Löwen, als hätten sie bei Henson die Werkstatt gefegt und ihn aus Restfusseln zusammengestoppelt? Warum sieht sein Schwanz so aus wie eine vom Hurrikan gebeutelte Palme Floridas?
So viele Fragen, die größte stellt die BamS: "Warum hat unser WM-Löwe keine Hose?"
Goleo sollte bei Wetten, dass...? übrigens noch aus einer größeren Gruppe von Menschen ein paar Kandidaten für eine Saalwette auswählen, wobei sich herausstellte, dass er nicht bis sechs zählen kann und außerdem schlecht sieht. Alles in allem war sein Auftritt so wenig überzeugend, dass er sich mit Lampenfieber allein nicht erklären lässt.
Wahrscheinlich ist dieser von den Amis erfundene Goleo nur ein weiterer Ausdruck transatlantischer Missverständnisse. Er ist so, wie man sich drüben den Germanen vorstellt. Ein Althippie, der ohne Hose rumrennt, weil er der FKK-Bewegung anhängt. Ein zahnloser Zausel, der sich mit einem brabbelnden Fußball unterhält. Dieser Ball ist zwar nicht auf der Achse des Bösen entlanggerollt. Aber jetzt klemmt er unter der Achsel des Löwen.
SZ vom 15.11.2004