Stilkritik:Markise

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Der crazy Künstler Ben Becker kündigt an, dem angeblich so scheußlichen Ort Homberg eine neue Markise zu spendieren. Dann reduziert er sein Angebot. Was nun wirklich crazy ist.

Von Sebastian Herrmann

Es existiert im Leben also eine Phase, in der man sich in der Vorstadt wiederfindet. Das Dasein kreist dann um die Fixpunkte Wertstoffhof, Einkaufszentrum, Gartencenter. Zu den großen Fragen in dieser Phase zählt: Wie gestalten wir den Sonnenschutz auf der Terrasse? Man ist ja nicht in die Vorstadt gezogen, um dann die freien fünf Minuten, die zwischen Kinderbespaßung, Beruf und sonstiger Daseinsbewältigung bleiben, in der prallen Sonne zu sitzen. Da sichten die Eigenheimler also Sonnenschirmangebote, begutachten Sonnensegel, denken über eine Pergola nach und landen am Ende bei einer Markise. Mit Fernbedienung, Windsensor und Teflonbeschichtung. Der Schauspieler Ben Becker hingegen, der stellt so etwas wie den leibgewordenen Gegenentwurf zum Vorstadtmenschen unter der Markise dar. Als crazy Künstler kannst du ja auch keine Joghurtbecher auswaschen und zum Wertstoffhof bringen, wie sieht das denn aus? Bei einer Lesung im weiteren Einzugsgebiet der Stadt Kassel demonstrierte Becker jüngst, wie weit entfernt vom Suburbanen sich sein Leben abspielt. Auf der Bühne in Homberg stänkerte der crazy Künstler darüber, wie scheußlich dieses Homburg sei, was vor allem, so Becker, an der hässlichen Markise des örtlichen Gemüsehändlers liege. Er werde diesem Händler eine neue Markise spendieren, polterte er. Das war im Monat Mai. Dann aber durchfuhr Ben Becker eine schmerzhafte Erkenntnis, die auch jeden Vorstadtmenschen irgendwann in Sorge versetzt: Markisen (Fernbedienung, Windsensor, Teflonbeschichtung!) sind teuer. Und da, so berichtet die Hessische/Niedersächsische Allgemeine, reduzierte Becker sein Angebot. Eine ganze Markise sei zu teuer, sagte er nun bei einer Lesung in Bad Hersfeld, nicht weit entfernt von Homberg. Er werde höchstens den Bezug bezahlen. So aber wie die Vorstadt ihre Bewohner verschlingt und auf ewig festhält, so peinigt nun auch die Markise den Künstler Becker. Seit Monaten wird er darauf angesprochen. Und der Gemüsehändler hat Becker schon mal eingeholte Markisen-Angebote geschickt. Bei 4000 Euro lag das günstigste. Aus der Nummer kommt Becker nicht mehr raus. Eher mogelt man unbemerkt einen Joghurtbecher auf dem Wertstoffhof in den falschen Container.

© SZ vom 17.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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