Sommerloch 1990:Als die D-Mark über die Grenze rollt

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Brehme trifft, Beckenbauer irrt, die D-Mark wandert in die DDR - und Saddam Hussein verzichtet auf einen Deal mit einer brasilianischen Sekte. Der bewegte Sommer 1990.

Gökalp Babayigit

Das Sommerloch 1990, das vorneweg, war ein verschwindend kleines. Denn zu sehr beschäftigten die zwei großen Ws des Sommers die Menschen in Deutschland, als dass Langeweile hätte aufkommen können: die Weltmeisterschaft in Italien und die Wiedervereinigung mit der DDR.

Jubel, Trubel, Heiterkeit allerorten - und ein Verkaufsrekord bei Deutschlandfahnen (das kennt man ja): Kaiser Franz und seine Elf spielen das Finale gegen Argentinien, Völler fällt, Elfmeter für Deutschland, Brehme tritt an, Abpfiff und deutscher Jubelsturm, Maradona weint, Matthäus hebt den Pokal, Beckenbauer dreht einsame Runden am Mittelkreis.

Bilder, die jeder ein Dutzend Mal gesehen hat, die aber trotzdem noch gut sind für einige denkwürdige Anekdoten. Warum haben Sie, Herr Matthäus, gleich nochmal Andreas Brehme den Vortritt beim Elfmeter gelassen? "So nach 15 Minuten sind aus meinem Schuhen Stollen herausgebrochen. So musste ich zur Halbzeit den Schuh wechseln, und ich war nicht mehr hundertprozentig sicher, dass ich den Elfmeter verwandeln würde."

Ach ja, richtig. Und warum waren Sie, Herr Beckenbauer, vor dem Spiel so siegessicher? "Es hat bei dieser WM keine Mannschaft gegeben, die uns das Wasser reichen konnte. Wir wussten, dass die Argentinier uns nicht Paroli bieten konnten. Und dann haben wir sie an die Wand gespielt, es war 90 Minuten ein Spiel auf ein Tor. Einen verdienteren WM-Erfolg hat die Welt noch nicht gesehen."

Kaiserliche Worte, fürwahr. Bei einem anderen Statement hat ihn, den Weltmeister-Trainer, die Geschichte dann aber doch noch Lügen gestraft. Und jetzt, Herr Beckenbauer, nach der Wiedervereinigung, wenn die Talente aus der DDR noch hinzukommen? "Dann sind wir auf Jahre hinaus nicht zu besiegen, das tut mir leid für den Rest den Welt."

"Die Sache steigt manchem zu Kopfe"

Weltmeister und wiedervereinigt: Manche sind sich ob der geballten Euphorie nicht ganz sicher, ob das nicht zu viel auf einmal fürs deutsche Gemüt ist - wie es das SZ-Streiflicht nach dem WM-Sieg in Rom festhält: "Nun, da die bundesdeutsche Elf (und nicht: Deutschland) das Finale in Rom gewonnen hat, kommen einem Zweifel, ob es gut war, Wiedervereinigung und Weltmeisterschaft im selben Jahr stattfinden zu lassen. Die Sache steigt manchem zu Kopfe."

Und die Wiedervereinigung! Dass am 1. Juli die Währungsunion in Kraft tritt und die D-Mark über die Grenze wandert, steht in jeder Chronik. Doch die ganzen Geschichten rund um die Währungsunion? Als "Sternstunde der Mark" gilt dem SZ-Leitartikler die mutig ausgeführte Operation, jenes "monetäre Bravourstück, über Nacht die sieche Ostmark verschwinden und an ihre Stelle die solide Mark treten zu lassen."

Auch wenn ein SZ-Reporter beruhigt feststellt, dass sich die Bürger der DDR nicht sofort westliche Verhaltensweisen aneignen ("Nun prügeln sie sich doch nicht mit hochroten Köpfen vor den Sparkassen um die D-Mark, als sei über Nacht mit der harten Währung auch das Gesetz der Ellenbogengesellschaft ins Land gekommen"), lässt sich der Einzug des Kapitalismus doch nicht verhindern - und wird deshalb im Detail geschildert.

Ausführlich wird berichtet, wie sich ein ganzes Land über Nacht mit Waren füllt ("Einen Tag nach der Währungsumstellung wirkt das Angebot auf die Bevölkerung wie eine Bescherung, bei der man nichts geschenkt bekommt"), wie die Menschen auf das neue Angebot reagieren ("der Kunde ist diszipliniert, aber neugierig") und was sie sich von ihrem ersten Westgeld kaufen wollen ("Wahrscheinlich ein Brot, massenhaft Joghurt, Kohlen und immer wieder Kohlen").

Die Rolling Stones kommen

Doch nicht nur D-Mark und Westwaren kommen über die Grenze, auch die Rolling Stones wollen erstmals in der DDR spielen - und weil den Musikern dieser Auftritt so wichtig sei, so vermelden die Zeitungen, werde die Karte 20 Mark billiger sein als in Westdeutschland.

Mit der Wiedervereinigung kommen aber auch die Probleme. So muss der Schilderwald im ostdeutschen Straßenverkehr verwestlicht werden (die Schwierigkeit dieses Unterfangens bringt eine deutsch-deutsche Expertengruppe auf den Punkt: "Eingeschliffene Verhaltensweisen sind im Straßenverkehr allenfalls mittelfristig zu ändern.").

Und mit der D-Mark scheinen auch vermehrt Diebe über die Grenze gekommen zu sein: die Zahl der Diebstähle steigt rapide an, seit es, nun ja, mehr zu klauen gibt. Freunde der gepflegten Sommerloch-Ereignisse kommen im Jahr 1990 also kaum auf ihre Kosten.

Zumal die zwei glückbringenden Ws sehr bald von einem düsteren K abgelöst werden. Ein Krieg zieht auf im Nahen Osten, Iraks Diktator Saddam Hussein lässt seine Truppen in Kuwait einmarschieren und ruft die Weltgemeinschaft, angeführt von den USA, auf den Plan.

Da hilft auch das großzügige Angebot der brasilianischen Sekte "Cacique Cobra Coral" nichts. Die spirituelle Gruppe nimmt für sich in Anspruch, durch übernatürliche Kräfte das Klima überall und zu jeder Zeit verändern zu können - und verspricht dem irakischen Staatschef die vierfache Regenmenge als Belohnung, wenn er seine Truppen wieder aus Kuwait zurückzieht.

Die Tageszeitung Estado de Sao Paolo berichtet, Hussein habe sich zwar für die angebotene Klimaverbesserung bedankt, eine Beendigung des Golf-Konflikts aber kategorisch abgelehnt. Außerdem habe er die Sekte dazu aufgerufen, ihr meteorologisches Können doch gegen die US-Truppen einzusetzen.

Die Aussagen Husseins wurden nie bestätigt, der Deal kam aber sicher nicht zustande: Im Januar 1991 sollte der Zweite Golfkrieg beginnen.

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