Sommerloch 1958:Als die Wildschweine aus Deutschland flohen

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1958 hauten die Keiler ab, über die Grenze nach Frankreich. Deutsche Fußballfans rächten sich an Schweden. Und endlich wurde das deutsche Ei genormt.

Johannes Honsell

sueddeutsche.de feiert 50 Jahre Sommerloch: Jeder Sommer des letzten halben Jahrhunderts bekommt sein Denkmal, und das jeden Tag. Bis das Sommerloch 2007 zu Ende ist.

Da sind sie: Deutsche Schwarzkittel unterwegs (Foto: Foto: dpa)

Es musste schon viel passieren, damit ein deutsches Wildschwein emigriert. Denn ob Weltkrieg, neue Autobahnen oder Jäger-Vollbeschäftigung: Der treue Keiler blieb. Bis 1958. Dem Sommer, als die Wildschweine Deutschland verließen.

Es war eine unerklärliche Wanderung im westfälischen Unterholz. Zu Hunderten setzten sie sich wohl ab, "retteten sich nach Frankreich", wie die Forstverwaltung vermutete. Keiler, Bachen, Frischlinge, bei sich nur das Nötigste, kehrten ihrer Heimat den Rücken.

"Auch die letzten Wildschweine aus den westfälischen Gemarkungen vertrieben!", wehklagte schließlich die SZ, und nannte die Schuldigen: Die Alliierten! Beziehungsweise ihre kanadischen Düsenjets, die immer noch über die Auen jagten, sodass das bundesdeutsche Wildschwein keine Ruhe fand.

Immerhin: Außer den "Schwarzkitteln" aus dem Wald und ein paar aus der SS wollte kaum wer weg. Warum auch? Volle Regale, blühende Landschaften, kaum Arbeitslose. Der Bundestag machte drei Monate Urlaub. Der Bundesrat tagte unverdrossen weiter.

Zurecht: Beschlossen wurde unter anderem die "Verordnung über das deutsche Standard-Ei". Das sollte "normal, sauber und unverletzt" aussehen, und es sollte ihm "kein schlechter oder fremder Geruch anhaften."

Das mit dem Ei ging im milden Sommer 1958 etwas unter, den Deutschen war nicht wichtig, was sie aßen, sondern dass sie aßen. Der Aufschwung machte zumindest die Westdeutschen kugelrund, weil nach der entbehrungsreichen Nachkriegszeit eine kompensatorische "Fresswelle" übers Land kam: Jetzt gab es Fett, Schweinefleisch, und eben Eier statt Kartoffeln und Brot.

Die SED-Kader in der DDR schienen beweisen zu wollen, dass Sozialismus auch fett machen kann, und beschlossen bis 1961 "den gleichen Wohlstand wie im Westen" herzustellen. Schönes Projekt, schlug aber fehl.

Wenigstens konnte man sich in Ostdeutschland freuen, dass "drüben" nicht schon wieder die Nation auferstand, bloß weil man Fußballweltmeister wurde. Im "Hexenkessel von Göteborg" schied Titelverteidiger Deutschland West gegen Schweden aus.

Gekränkte Fans jagten daraufhin ein paar Exil-Schweden und malten revanchistische Plakate: "Die Schweden waren ungerecht, Brasilien hat uns gerächt."

Ja, die Weltlage war angespannt. Im Irak wurde der König gestürzt, im Libanon marschierten amerikanische Soldaten ein. Es folgte ein hektischer Notenwechsel zwischen Moskau, London und Washington. Resultat: Der Weltkrieg wurde vertagt.

Die Zeitungen freuten sich trotzdem übers diplomatische Pingpong, ließ es sich doch in viele Aufmacher zerlegen: "Chrustschow will Vollversammlung" -"Eisenhower: Ich auch". - "Britischer Premier MacMillan: Geht mir ähnlich".

Noch zwei andere Weltchefs trafen sich zum ersten Mal überhaupt, da wurde es schon Herbst: Adenauer und de Gaulle, in des Franzosen Haus in Colombey-les-Deux-Églises. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, deutsch-französische Aussöhnung beim Abendessen.

Das Menu war schlicht, die Eier nicht genormt, und wahrscheinlich gab es, aus Rücksicht auf den Gast, kein Wildschwein.

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