Skandal um Anthropologieprofessor Protsch:Vermessen in jeder Hinsicht

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Fragliche Datierungen, verschwundene Affenschädel, geknackte Panzerschränke - wie sich die Frankfurter Uni bis auf die Knochen blamiert hat.

Von Hubert Filser

Frankfurt am Main, im Oktober - In der Siesmayerstraße versperren Betonblöcke den Weg. Polizeiautos stehen quer. Stacheldraht riegelt die amerikanische Botschaft ab, davor wachen gepanzerte Fahrzeuge.

Das Institut für Anthropologie der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität befindet sich weiter hinten in der einst beschaulichen Straße, ein dreistöckiger Zweckbau.

Dafür ist die Aussicht aus dem Gebäude hübsch, schräg gegenüber liegt der Palmengarten mit allerlei exotischem Gewächs. Im dritten Stock ist das Büro des Anthropologieprofessors Reiner Protsch von Zieten, seit März ist es verschlossen. Protsch hat Hausverbot.

In diesem Haus geht es um Intrigen und Fälschungen. Panzerschränke werden aufgesägt, Schädel angebohrt, Knochen pulverisiert. Es geht darum, ob man wissenschaftlichen Behauptungen trauen kann.

Die Siesmayerstraße passt mit ihren Sperren gut zum Lebensweg des 65-jährigen Reiner Protsch von Zieten, der prähistorische Knochen absichtlich jahrelang falsch datiert haben soll und der angeblich eine wertvolle, universitätseigene Sammlung von 278 Affenschädeln verkaufen wollte.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt seit März. Am 18. August hat die Universität Frankfurt zudem eine Kommission zum "Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten" eingerichtet. Am vergangenen Mittwoch hat sie zum dritten Mal getagt.

Danach sagte der Universitätspressesprecher: "Möglicherweise haben die Betrügereien des Herrn Protsch noch ganz andere Dimensionen."

Despot mit Zigarre

Es ist ein überaus komplizierter Fall. "Da wird genebelt", ist von der Universität zu hören, "und diesen Nebel müssen wir durchstoßen." Der Spiegel hatte in zwei großen Artikeln das Profil eines herrschsüchtigen, selbstgefälligen Menschen gezeichnet, eines Despoten mit Zigarre, der Porsche fährt, goldene Uhren trägt und in einer großen Jugendstilvilla mit Bediensteten wohnt.

Kurz: Ein Mann mit der puren Lust am Luxus. Nun wird ihm auch noch vorgeworfen, im Juli 2001 brisantes Material aus den NS-Zeit entsorgt zu haben: Vaterschaftsgutachten, Glas-Dias, Sterilisationsakten.

Es sieht also so aus, als sei sein 31-jähriges Wirken seit langer Zeit von Ungereimtheiten, Unwahrheiten, unglaublichen Geschichten begleitet gewesen.

Geschichten in einer Fülle, wie sie selten nur eine Person hervorbringen kann. Bei denen man sich fragt, warum alle Welt erst jetzt dagegen so entschieden vorgeht.

September 2004. Der Beschuldigte sitzt in der Kanzlei seines Anwalts Ulrich Koch in der Frankfurter Savignystraße. Auf dem Tisch liegt ein Stapel mit Dokumenten zum Fall, er ist zwanzig Zentimeter hoch.

"Haben Sie den Porsche draußen gesehen?", fragt Reiner Protsch als erstes, noch während man sich die Hände schüttelt. "Ich fahre einen Smart."

"Die hat mir ein Scheich geschenkt"

Außerdem habe er noch nie 100 Liegestützen hintereinander gemacht, er habe keine Bediensteten und auch keine edle Breitling-Uhr. "Es ist eine Rolex. Die hat mir ein Scheich geschenkt." Das ist seine Antwort auf den Spiegel.

Eine Zigarre wird er an diesem Nachmittag nicht rauchen. Stattdessen erzählt er lächelnd sein Leben im Schnelldurchlauf: 1939 in Berlin geboren, mit 15 nach Amerika, nach Toledo und Ohio. Ohne Eltern.

Mit 18 sei er zurück nach Deutschland gekommen, habe Abitur in Heidelberg gemacht, dann als einer der ersten Männer in Deutschland 1958 den Wehrdienst geleistet.

Danach geht es zurück in die USA, auch dort zum Militär. Ein halbes Jahr davon war er in Vietnam für den militärischen Geheimdienst. Was er dort gemacht hat? "Ist geheim", sagt er. "Darüber rede ich lieber nicht."

Es sind solche Momente, die einem im Nachhinein einfallen. Wie er charmant lächelt, wie er fast beiläufig das Thema wechselt, so als wolle er sagen: Ach, es gibt doch viel phantastischere Dinge als diese kleinen Details.

Zum Beispiel, dass er Knochenproben von Adolf Hitler und Eva Braun erhalten habe. "Von den Russen", raunt er geheimnisvoll. Oder er erzählt, dass er Geologie, Anthropologie und Evolutionsbiologie studiert hat an der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Beim Nobelpreisträger Willard Libby.

Später wird er einem noch ein Schreiben des Nobelpreisträgers Willard Libby zuschicken, in dem dieser ihn wärmstens empfiehlt. Das ist fast rührend.

Er schreitet dahin wie einer, der die Welt erobern will. "Er hat sich immer so verhalten, als würde alles ihm gehören", sagen fast wortgleich ehemalige Mitarbeiter.

Bernhard Weninger, jetzt Leiter des C-14-Labors der Universität Köln, erzählt, er habe als Laborleiter schon 1984 den Verdacht gehabt, Protsch würde seine wissenschaftlichen Daten nicht messen, sondern "mental erzeugen".

Ein harter Vorwurf, den er mit einem persönlichen Experiment zu beweisen versuchte: "Als ich im Dezember 1984 einmal ein paar Tage in Urlaub ging, habe ich ein Ventil am C-14-Zählrohr mit Drähten und einem Münzabdruck in Wachs versiegelt", erzählt Weninger.

Kurz darauf bedankten sich Kollegen für Messungen des C-14-Labors an Knochen aus einem Gräberfeld von Wiesbaden-Erbenheim. Weninger, zurück aus seinem Urlaub, war verblüfft.

Doch Protsch behauptete, diese Messungen in Weningers Abwesenheit selbst gemacht zu haben. Nur: "Das Ventil war bei meiner Rückkehr noch versiegelt." Es konnte also nicht sein. "Da brach eine Welt für mich zusammen. Das war der Beweis, dass Protsch nicht wirklich misst."

All dies steht in einem sehr emotionalen Brief aus dem Jahr 1984 an den damaligen Dekan des Fachbereichs Biologie, in dem Weninger sich über seinen Chef beschwerte. Doch niemand ging gegen Protsch vor.

Datierungsdesaster

Lediglich Weninger wurde damals in eine andere Abteilung der Universität versetzt, so der heutige Universitätspräsident Rudolf Steinberg. Sonst passierte nichts.

Bis sich vor vier Jahren der Greifswalder Archäologe Thomas Terberger altsteinzeitliche Fundstücke menschlicher Knochen aus Deutschland genauer ansah.

Er ließ ihr Alter in einem renommierten Oxforder Labor überprüfen. Holz- und Knochenreste lassen sich mit Hilfe der so genannten Radiokarbonmethode datieren.

Der radioaktive Zerfall eines Kohlenstoffisotops ist vergleichbar einer biologischen Uhr, mit der man den Todeszeitpunkt von Organismen feststellen kann. Wichtig ist, dass man absolut sauberes Material hat.

Ist ein Schädel verunreinigt, wird durch jüngere Bestandteile das Ergebnis verfälscht. Das renommierte Oxforder Labor meldete damals: Die drei Schädel seien etwa zwischen 20000 und 30000 Jahre jünger als die von Protsch gemeldeten Daten behaupten.

"Das ist ein Datierungsdesaster", sagt Terberger. Weitere drei Jahre passierte allerdings wiederum nichts.

Anfrage in Kalifornien

Als Protsch 2004 mit den Ergebnissen konfrontiert wurde, wehrt er sich reflexartig gegen die britischen Kollegen. "Das Labor in Oxford hat die Proben nicht sauber aufbereitet."

Eigene Schuld scheint es in Protschs Welt nicht zu geben. In einer mehrseitigen Verteidigungsschrift an die Kommission beteuert er immer wieder seine Unschuld.

Die Originaldatierungen seien in den USA entstanden. "Da wir selbst also keine Datierungen durchgeführt haben, können wir auch keine Unterlagen vorweisen", sagt Protsch und nennt die Labornummern: UCLA-2359, 2360, 2363.

All diese Sachen habe er nur nachgemessen. Und überhaupt: "Ein Drittel aller C-14-Datierungen weichen von den anerkannten Werten ab", sagt er.

Das steht auch tatsächlich so in seinem Schreiben an die Kommission der Frankfurter Universität, die die ganzen Ungereimtheiten jetzt alle aufdecken soll.

Die hat mittlerweile eine Anfrage nach Kalifornien geschickt. Dumm ist nur, dass das Labor nach Auskunft des dortigen Cotsen Institute of Archaeology seit mindestens zehn Jahren dicht ist. Zudem sei Rainer Berger, ein Freund von Protsch und lange Leiter des Labors, vor ein paar Jahren gestorben. Niemand wisse, wo die Unterlagen seien.

Gibt es wenigstens Protokolle der Frankfurter Messungen? "Die sind bei einem Einbruch 1985 gestohlen worden", sagt Protsch, lehnt sich zurück und erzählt von seinem Engagement für die Universität.

Dass er morgens um 4.30 Uhr aufgestanden sei, dass er um 6 Uhr in der Universität angefangen und bis spätabends gearbeitet habe, dass er dort Doktoranden der Zahnmedizin bei ihrer Doktorarbeit betreut habe.

"84 in 30 Jahren", sagt er, "unentgeltlich." Er habe sie lediglich um Spenden gebeten. "Wir hatten nur einen Etat von 3500 Euro jährlich für alles, vom Papier bis zum Ankauf von Exponaten."

Bleiben die Sache mit den Affenschädeln und die fehlenden Exponate aus dem Panzerschrank im 3. Stock des Institutsgebäudes, der Ende Juli aufgesägt wurde, von wem auch immer.

In beiden Fällen ermittelt die Staatsanwaltschaft Frankfurt, Aktenzeichen AZ 3290 JS 209134/04. "Kein Fall für Anfänger", sagt Doris Möller-Scheu, die Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft.

Die Universität hatte am 3. März 2004 Strafanzeige gestellt. Zu klären ist in dem Fall die Frage, wem die Affenschädel gehören. Protsch sagt, er habe sie 1976 erworben. "Die Kaufurkunde wird graphologisch untersucht, es wird sich zeigen, dass sie echt ist", sagt er.

Seine Assistenten am Institut erzählen jedoch, er habe Anfang 2004 noch eigenhändig die mit Tusche aufgeschriebenen Institutsnummern abgeschliffen und die eigene Signatur PvZ angebracht. Insgesamt 278 Mal: Protsch von Zieten, Nummer 1 bis Nummer 278.

Der südafrikanische Anthropologe Ron Clarke von der Universität Witwatersrand in Johannesburg und sein Kollege Travis Pickering von der Indiana University kennen diese 278 Schädel der Affensammlung sehr gut, da sie seit Jahren daran wissenschaftliche Forschungen betreiben.

"Ich weiß zwar nicht, wem diese Sammlung gehört", sagt Clarke heute. "Aber es ist wissenschaftlich eine der besten dieser Art weltweit. Ich verstehe deshalb nicht, warum Protsch diese Sammlung überhaupt verkaufen möchte."

Wir haben Professor Clarke angerufen, um zu erfahren, wie eng er mit dem Frankfurter Professor zusammengearbeitet hat. "Ich habe niemals mit Professor Protsch publiziert", antwortet Clarke erstaunt.

Das aber sei seltsam, halten wir ihm entgegen, denn wir haben zwei Veröffentlichungen vorliegen, die Clarke und Protsch gemeinsam geschrieben haben sollen. "Das kann nicht sein", sagt Clarke bestimmt. "Ich weiß davon nichts."

Protsch hat offenbar einen Artikel von Clarke aus dem Jahr 1999 ohne dessen Wissen oder gar Einwilligung im Jahr 2003 unter ihrer beider Namen ein zweites Mal publiziert - mit einer kleinen Veränderung.

Im ersten Satz ist eine Zahl geändert, Protsch hat sie von 74 auf 78 angepasst, da der Text vier Jahre später erschien.

Die Universität schweigt zu all diesen Erkenntnissen mit Hinweis auf das laufende Ermittlungsverfahren. Aufgeregt reagiert sie allerdings bei den angeblich vernichteten NS-Akten: Auf die Berichte im Spiegel folgte die Meldung, eine Reihe verloren geglaubter NS-Unterlagen sei sichergestellt worden.

Tatsächlich scheint die Aufregung übertrieben zu sein. Nils-Jörn Rehbach, einer der beiden Studenten, die damals im Auftrag von Protsch im Keller Platz schaffen sollten, bestätigt, dass "90 Prozent des entsorgten Materials nichts mit der NS-Zeit zu tun hatten".

Warum aber ließ Protsch den Keller räumen? Nikolaos Xirotiris, von 1980 bis 1986 Protschs Assistent und heute Anthropologie-Professor an der Universität von Thrakien in Komotini, glaubt, Protsch wollte vertuschen, dass er in den Achtzigerjahren alte, rassenbiologische Nazi-Literatur in die USA verkauft habe: "Solche Bücher haben viel Geld gebracht."

Viele finden jetzt erst den Mut, alte Geschichten aufzurollen

Warum kommen auf einmal so viele Vorwürfe gegen Protsch gleichzeitig hoch? "Viele Leute finden jetzt erst den Mut, alte Geschichten aufzurollen", sagt Xirotiris.

Es ist, als würden die Dämme brechen. "Was hätte man als kleiner Doktorand auch tun sollen?", fragt Protschs letzter Doktorand Stefan Flohr. "Wir hatten nicht die Mittel", meint Professor Ron Clarke.

Und der heutige Kölner C-14-Laborleiter Bernhard Weninger schrieb vor 21 Jahren noch an Protsch: "Eine Bestätigung, wie glücklich ich über meine Arbeit bin, könnte Ihnen wohl eigentlich nur mein Freundeskreis geben. Letztlich ist es Ihre Liberalität und Toleranz."

Heute sagt er dazu: "Das hat damals gestimmt, deshalb war ich auch so enttäuscht." Aber jetzt werde endlich richtig aufgeklärt: "Zitieren sie mich: Die Kommission macht gute Arbeit."

Ruinierter Ruf

Nun gibt sich, nach 31 Jahren der Zusammenarbeit, auch die Universität Frankfurt kämpferisch: "Rückhaltlose Aufklärung" und "Mit aller Konsequenz" sind die jüngsten Presseerklärungen zum Fall Protsch überschrieben.

Reiner Protsch von Zieten hält sich derzeit in den USA auf. Sein Ruf ist ruiniert, aber es scheint ihm nur wenig auszumachen. "Was glauben Sie, wie viele Paläoanthropologen es in Deutschland gibt?", fragt er und antwortet nach einer kurzen Pause gleich selbst. "Zwei", sagt er und lacht.

"Mich und Alfred Czarnetzki aus Tübingen. Alle anderen wichtigen Leute kommen aus den USA."

Stört es ihn nicht, dass er unter den Archäologen kein hohes Ansehen mehr genießt? "Nein, mit denen muss ich ja nicht zusammenarbeiten." Schlecht scheint es ihm offenbar nicht zu gehen. "Ich habe glänzende Möglichkeiten in den USA", sagt er. "Zwei Universitäten würden mich sofort nehmen."

Und was macht man in Frankfurt, in der Siesmayerstraße? Nicht viel. Der Standort soll geschlossen werden.

© SZ vom 19.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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