Sexual-Aufklärung:Der Mann, der "Doktor Sommer" war

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Der Mann, der "Doktor Sommer" war, ist fast 80. Er trägt eine sportliche Hose mit vielen Taschen und weiße Haare mit akkurat geschnittenem Pony. Er ist der Mann, dem sich tausende Teenager anvertrauten. Für viele ist "Doktor Sommer" ein Phantom.

Seit 37 Jahren werden unter diesem Pseudonym pubertierende Leser von Deutschlands größter Jugendzeitschrift Bravo bei Fragen zu Liebe, Sex und Zärtlichkeit beraten. Aber Dr. Martin Goldstein, wohnhaft in Kaarst bei Düsseldorf, ist kein Phantom. Er ist der Mann, der "Doktor Sommer" war.

Es war 1969, als der damalige Bravo-Chefredakteur anrief, weil er Goldsteins Aufklärungsbuch "Anders als bei Schmetterlingen" gelesen hatte. Diesen Autor, der so unverklemmt über Sexualität schrieb, wollte er für sein Magazin. Goldstein hatte nichts dagegen.

"Ich wollte Jugendliche direkt erreichen", sagt er und erzählt, wie bald tausende Briefe eingingen und ein Team her musste, um sie nach seinen Vorgaben zu beantworten.

Zwischen den Zeilen lesen

Martin Goldstein nimmt sein Gegenüber ernst und hört aufmerksam zu ­ das Erfolgsrezept des "Doktor Sommer". Wichtig sei ihm damals gewesen, zwischen den Zeilen zu lesen, sagt Goldstein: Was weiß der Briefeschreiber schon, und woher? Braucht er Bestätigung, Trost oder Information? Er schildert, wie er 17-Jährigen Mut machte, die ihr Glied zu klein fanden, und 14-Jährige unterstützte, die nicht mehr mit ihren Eltern in den Schützenverein gehen wollten.

Der Junge, der "Doktor Sommer" werden sollte, hatte selbst keine richtige Jugend. Martin Goldstein verbrachte sein 17. Lebensjahr in einem Zwangsarbeitslager der Nazis und später in einem Wald-Versteck nahe seiner Geburtsstadt Bielefeld. Seine Angst galt der Gestapo, nicht dem ersten Geschlechtsverkehr.

In der NS-Zeit deportiert

Als er 16 war, galt Martin Goldstein in der NS-Sprache der Nürnberger Gesetze als jüdischer Mischling ersten Grades. Als Lehrling wurde er deportiert. Martin Goldstein brauchte 50 Jahre, um über diese Erlebnisse sprechen zu können. Vielleicht war es ihm deshalb später so wichtig, Worte zu finden für Dinge, über die "man nicht spricht".

Goldstein wurde zum Aufklärer der Jugend, ohne selbst je aufgeklärt worden zu sein. "Mit 23 Jahren hatte ich das erste Mal näheren Kontakt zu einer Frau", erzählt Goldstein: "Sie hatte keinen Kopf und schwamm in einer giftigen Lauge. Diese stinkende Tote traf ich im Präparierkurs." Martin Goldstein studierte damals Medizin. Danach wurde Goldstein aber nicht Arzt, sondern Leiter einer evangelischen Anlaufstelle für Jugendliche in Düsseldorf. Er schloss eine Ausbildung zum Religionslehrer an.

Es war die Kirche, dank derer sich Goldstein zum ersten Mal mit sexueller Aufklärung beschäftigte: Er sollte untersuchen, wie die "Erziehung zu Ehe und Familie" in evangelischen Zeitschriften und Seminaren behandelt wurde. Seine Ergebnisse erschütterten ihn: Die Tabus, die seine eigene Pubertät zwischen Gebeten und Begierde zur Qual gemacht hatten, lebten noch immer. Der Jugend-Betreuer hatte sein Thema gefunden, und es ließ ihn nicht mehr los.

Aus Mangel an geeigneter Literatur schrieb er selbst welche: "Anders als bei Schmetterlingen" kam 1967 heraus, das "Lexikon der Sexualität" 1970. Die "Bravo"-Redaktion wurde aufmerksam: endlich jemand, der die richtigen Worte fand und auch noch aus der Kirche kam. "Mit dem Rest der Bravo konnte ich mich oft nicht identifizieren, es war ein ständiger Konflikt", sagt Goldstein.

Macht Sperma dick?

Tatsächlich war "Dr. Jochen Sommer" der Gesellschaft um Jahre voraus. 1972 wurden zwei Bravo-Ausgaben wegen seiner Serie zum Thema Selbstbefriedigung von staatlichen Jugendschützern beanstandet und auf den Index gesetzt, mit einer Begründung, die Goldstein aus dem Gedächtnis zitiert: "Die Geschlechtsreife allein berechtigt noch nicht zur Inbetriebnahme der Geschlechtsorgane".

15 Jahre lang, bis 1984, arbeitete Goldstein für die Bravo, dann rückte anderes in den Vordergrund. Manchmal jedoch, gesteht er, besuche er die "Bravo"-Redaktion in München, lese Briefe ans Doktor-Sommer-Team und entwerfe im Kopf Antworten.

Die Jugendlichen wissen heute vielleicht mehr, sagt Martin Goldstein, aber sie seien noch genauso unsicher. "Kann ich schwanger werden, wenn ich Sperma schlucke", hätten Mädchen damals gefragt. Heute heiße es eher: "Wie viele Kalorien hat Sperma? Werde ich davon dick?"

© Katrin Pinetzki - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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