Schwerin:Kinderschutzbund: Lea-Sophie ist kein Einzelfall

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Der Deutsche Kinderschutzbund befürchtet eine zunehmende Vernachlässigung von Kindern. In Schwerin war ein fünfjähriges Mädchen qualvoll verhungert und verdurstet.

Nach Einschätzung des Deutschen Kinderschutzbundes ist der Tod der fünfjährigen Lea-Sophie in Schwerin kein Einzelfall . "Aus der Praxis unserer Beratungsstellen und Kinderschutzzentren wissen wir, dass Kinder häufiger als früher vernachlässigt werden", sagte die Vizepräsidentin der Kinderschutzorganisation, Marlis Herterich, in Köln.

Für die Kindern habe Vernachlässigung schlimme Folgen. "Das Ende einer schrecklichen Entwicklung kann der Tod des Kindes sein", meinte Herterich mit Blick auf das Schicksal der fünfjährigen Lea-Sophie. Der Tod des fünfjährigen Mädchens sei leider kein einmaliger Fall mehr, so Herterich weiter.

Ihres Wissens seien in den vergangenen zwei Jahren fünf oder sechs Kinder in Deutschland verhungert. "Jeder Tod eines Kindes ist schrecklich; Verhungern ist ein furchtbares Sterben", meinte sie. Statistisch werde die Zahl der vernachlässigten Kinder nicht erfasst.

Bei der Vernachlässigung spielten Überforderung der Eltern, schwierige Lebensumstände und Armut häufig eine Rolle, betonte die Vizepräsidentin des Kinderschutzbundes. In Deutschland lebten mittlerweile 2,6 Millionen Kinder unter 18 Jahren auf Hartz-IV- oder Sozialhilfeniveau. In den meisten armen Familien würden die Eltern alles für ihre Kinder tun und selbst auf alles verzichten.

Dennoch häuften sich in armen Familien Druck und Probleme und auch die Fälle, in denen Eltern sich nicht um ihre Kinder kümmerten. Notwendig sei präventiver Kinderschutz, verlangte Herterich. Man müsse gefährdete Familien aufsuchen, bevor das Kind Schaden genommen habe.

Leider hätten die zuständigen Kommunen in den vergangenen Jahren bei ihren sozialen Diensten, bei Jugend- oder Sozialämtern, massiv Personal abgebaut.

Hingegen stiegen nach Angaben des Statistischen Bundesamtens in Wiesbaden die Ausgaben für Schutzmaßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe im vergangenen Jahr deutlich: Für vorläufige Schutzmaßnahmen, zu denen insbesondere die sogenannte Inobhutnahme bei Gefährdung des Kindeswohls gehört, stiegen sie gegenüber dem Vorjahr um 6,4 Prozent auf 81,1 Millionen Euro.

Insgesamt legten die Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden für Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe leicht um 0,3 Prozent auf 20,9 Milliarden Euro zu, teilte das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Freitag mit. Nach Abzug der Einnahmen, unter anderem aus Gebühren und Teilnahmebeiträgen, wurden netto rund 18,8 Milliarden Euro ausgegeben.

Die Nettoaufwendungen lagen dabei 0,4 Prozent unter denen des Jahres 2005. Mit 11,8 Milliarden Euro wurde mehr als die Hälfte der Bruttoausgaben (56 Prozent) für die Kindertagesbetreuung geleistet. Die Nettoausgaben in diesem Bereich lagen bei 10,4 Milliarden Euro. Insgesamt 5,6 Milliarden Euro und damit ein Viertel der Bruttoausgaben (27 Prozent) wurden für Hilfen zur Erziehung bereitgestellt. Für Maßnahmen der Jugendarbeit wurden mit 1,4 Milliarden Euro rund 6,6 Prozent der Gesamtausgaben verwendet.

Unterdessen hat der Hungertod der Fünfjährigen erneut eine Debatte über Frühwarnsysteme gegen die Misshandlung von Kindern ausgelöst.

So sagte die Vorsitzende des Bundestags-Familienausschusses, Kerstin Griese (SPD), der Berliner Zeitung: "Ich plädiere ganz massiv dafür, Vorsorgeuntersuchungen zur Pflicht zu machen."

Notwendig sei eine bundesweit einheitliche gesetzliche Regelung. Zwar sei dies keine Garantie dafür, dass künftig schreckliche Fälle wie der in Schwerin verhindert würden. Es sei jedoch ein "Baustein für den Schutz der Kinder".

Die Union äußerte sich zu den Forderungen nach einem staatlichen Eingreifen zurückhaltender als die SPD. Vize-Fraktionschefin Ilse Falk (CDU) sagte, es könne nicht darum gehen, einen riesigen Kontrollapparat zu installieren. Der Ball liege jetzt bei der Gesundheitspolitik.

So müsse gewährleistet werden, dass es bei den Vorsorgeuntersuchungen nicht nur um den allgemeinen Entwicklungsstand der Kinder gehe. Vielmehr müsse konkret auf Anzeichen von Misshandlungen geachtet werden. Nötig seien neue Richtlinien. Falk plädierte dafür, die sogenannte aufsuchende Hilfe zu stärken. "Früher gab es die Gemeindeschwester, die sich regelmäßig um die Familien gekümmert hat."

Die Opposition im Bundestag beklagt vor allem ein Versagen der staatlichen Stellen. Der Familienpolitiker der Linkspartei, Jörn Wunderlich, sagte: "Wenn jahrelang bei Jugendämtern und der Jugendhilfe gespart wird, braucht man sich nicht zu wundern, dass so etwas passiert". Es fehlten die Mittel und qualifiziertes Personal.

Die Jugendämter müssten personell und finanziell besser ausgestattet werden", forderte auch Miriam Gruß von der FDP. Wunderlich und Gruß äußerten sich ebenso wie Ekin Deligöz (Grüne) skeptisch zu Pflicht-Vorsorgeuntersuchungen. Deligöz begrüßte es aber, dass immer mehr Bundesländer Anstrengungen unternähmen, die Teilnahme an den Untersuchungen zu erhöhen.

Sie sprach sich zudem für eine frühe und regelmäßige Betreuung von Familien aus. "Hebammen könnten Familien weit über die Geburt hinaus beraten", sagte sie.

Gegen die Eltern von Lea-Sophie ist Haftbefehl erlassen worden. Die Eltern sollen das Mädchen mehrere Monate lang nicht ausreichend ernährt haben, wie Oberstaatsanwalt Hans-Christian Pick sagte. Zum Schluss habe Lea-Sophie nur noch 7,4 Kilogramm gewogen. Normal wären etwa 20 Kilogramm. Das Mädchen war am Dienstagabend ins Krankenhaus gebracht worden, wo es kurz danach starb.

Schwerins Oberbürgermeister unter Druck

Wegen des Falls geraten unterdessen jetzt die Schweriner Behörden unter Druck. Oberbürgermeister Norbert Claussen (CDU) wehrte sich am Donnerstagabend gegen Kritik am Jugendamt. "Bisher gibt es keinen Ansatz dafür, dass irgendein Mitarbeiter schnuselig gearbeitet hätte oder seine Aufgaben nicht erfüllt hätte", sagte er im ARD-"Nachtmagazin". Dennoch werde überlegt, was künftig verbessert werden könne.

© AFP/dpa/Reuters/gdo/bavo - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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