Schaulustige am Vulkan St. Helens:"Okay, Kleine, lass es raus!"

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Damals, 1980, sind 57 Menschen gestorben, manche, weil sie den Vulkan unterschätzt haben, andere, weil sie ihn geliebt haben. Jetzt warten wieder "Vulkanoholics" auf den Ausbruch von Mount St. Helens. Sie warten auf Plastik-Klappstühlen oder Pickup-Ladeflächen. Stundenlang. Tagelang.

Von Karin Steinberger

Ganz unten sitzt Toby Brookresen. Bei ihm explodiert der Berg alle 45 Minuten, jeden Tag und in einer Lautstärke, die beachtlich ist. Es gibt also keinen Grund, noch weiter zu fahren. Man könnte hier anfangen und hier aufhören, in dem kleinen Holzfällerort Castle Rock, wo man von der Interstate 5 abzweigt, um zum Mount St. Helens zu fahren.

Schaulustige beobachten den Mount St. Helens - aus sicherer Entfernung. (Foto: Foto: dpa)

Alle 45 Minuten, das schafft nicht mal der aktivste Vulkan. Und jedesmal, wenn bei Toby Brookresen der Berg explodiert, fängt auch sein kleines Büro an zu schaukeln, und der Computer im Vorraum, auf dem Bilder live vom echten Vulkan zu sehen sind.

So ist es bei Toby Brookresen, er würde gar nicht mitbekommen, wenn es oben wirklich losgeht.

Er ist der Chef über die weichen Stühle des Cinedome Theaters, in dem man auf einer gigantischen Leinwand noch einmal den Ausbruch des Mount St. Helens am Morgen des 18. Mai 1980 miterleben kann. Auf den speziellen eruption seats ruckelt es, wenn es die Kuppel und die Nordflanke des Berges immer und immer wieder mit der Gewalt von 27000 Atombomben wegsprengt, wenn der so genannte Steinwind mit 1070 Kilometern pro Stunde über die Landschaft hinwegfegt, wenn sich Wolkentürme mehr als 20 Kilometer weit in den Himmel schieben, wenn es tonnenweise Asche regnet, wenn die Schlammmassen das Land unter sich begraben, so hoch, dass die Space Needle in Seattle darunter verschwinden würde.

So war das damals. Und dann war Stille. Hier am Berg und in den Orten außenrum war nichts zu hören von alledem. Erst in Seattle kamen die Tonwellen des Lärms herunter. Toby Brookresen jedenfalls möchte weit weg sein, wenn St. Helens wieder in die Luft fliegt.

Nichts als luftige Pupse

Doch die meisten sehen das anders, sie rauschen an dem Kino und dem Souvenirladen vorbei, in dem Toby Brookresen arbeitet. Seine bebenden Sitze und die Vasen aus der Asche vom Ausbruch 1980 interessieren nicht mehr. Da oben kann man Ausbrüche live erleben. Also fahren die meisten hinauf bis auf 1000 Meter, ins Coldwater Ridge Center, um ihr nahe zu sein, der aufgerissenen Flanke des Mount St. Helens. Dann warten sie. Stundenlang, tagelang. Bei schönem Wetter stehen Kilometer hinter Kilometer Autos am Straßenrand. Immer den Vulkan im Visier. Es herrscht Volksfeststimmung.

Sie haben ihre Kinder und Hunde mitgebracht. Sitzen in ihren 10-Dollar-Klappstühlen oder liegen auf der Ladefläche ihrer Pickups und starren den Berg an. Ihre Augen sind rot unterlaufen. Sie sind bewaffnet mit Kameras und Weitwinkelobjektiven, mit Fernrohren und 8-inch-Newtonion-Teleskopen.

Sie lesen, dösen und erzählen sich Geschichten vom großen bang 1980, als der Berg die Kuppe verlor, als die Städte menschenleer waren und die Tage ohne Licht. Dann starren sie nach oben zu den ausgefransten Rändern des Kraters und versuchen mit ihren Geräten hineinzublicken in diesen Rachen, in dem sich die Erde hebt und Gletscherwasser rauscht. Heiß und rätselhaft ist es da drinnen.

Manchmal lässt der Berg wieder ein bisschen Wasserdampf und Asche ab. Dann fotografieren sie und fachsimpeln, als wären sie allesamt Vulkanologen, sie reden über neues und altes Magma, über Schmelzwasser, das giftige Dämpfe filtert, über Kraterbeben, die kleine Steinlawinen auslösen, über Messgeräte, die todesmutige Wissenschaftler nach den Ausbrüchen in den Berg geworfen haben, über die Möglichkeit, dass ein anderer der Vulkane in der Gegend loslegt: Mount Rainier, Mount Adams.

"Go, go, go!"

Wenn sich St. Helens wieder beruhigt, schreien sie zu ihr hinauf: "Okay, ich bin bereit, Kleine, du kannst loslegen" - "Mach schon, Baby" - "Lass es raus" - "Go, go, go". Dann beruhigen sich Berg und Zuschauer wieder. So geht das seit Tagen.

Für Toby Brookresen sind das lauter Verrückte da oben. 1980 sind 57 Menschen gestorben, manche, weil sie den Berg unterschätzt haben, andere, weil sie ihn geliebt haben. Harry Truman zum Beispiel. Harry ist einfach geblieben. Er hat die Beamten, die ihn aus seiner Hütte am Spirit See evakuieren wollten, weggeschickt. Keine zehn Esel würden ihn und seine 16 Katzen von hier wegbringen, sagte er. 50 Jahre lang lebte er im Schatten des Mount St. Helens.

Seine Schrulligkeit war berüchtigt, seine Räusche waren legendär. "Der Berg ist ein Teil von Truman, und Truman ist ein Teil des Berges, sie wird mir nichts tun", sagte der 84-Jährige. Dann verschwand er am 18.Mai zusammen mit seiner Lodge und dem See in einer Lawine aus Schlamm und Asche. "Er ist bei seiner Geliebten", sagt Brookresen. "Aber ich will mit dem Berg momentan nichts zu tun haben", sagt er. Dann wackelt sein Büro, weil im Kino wieder alles von vorne anfängt.

Für die Menschen hier ist St. Helens eine Frau, launisch, zickig, undurchschaubar. Sie hat schon immer getan, was sie wollte. So sieht das auch George V. Casey, der das, was man bei Toby Brookresen sehen kann, 1980 gefilmt hat.

Ein "Vulkanoholic" streichelt den Krater

Der Berg ist eine Frau, und George V. Casey ist ihr damals sehr nahe gekommen. Er ist in ihrem Krater herumgeflogen, hat ihren zerstörten Körper mit seiner Kamera gestreichelt, hat ihre kilometerhohen Wolken umgarnt. Er ist der Meister der Desaster, hat Filme über Vulkane, Erdbeben und Tornados für National Geographic und Imax gedreht. "Vulkanoholic" nennt er sich. Er treibt sich immer dort herum, wo sich das Erdinnere an die Erdoberfläche heranarbeitet. Er kennt die Gefahr. Und er kennt das Warten.

Und so sitzt er jetzt schon seit Tagen ganz nah bei ihr, auf dem Castle Lake Viewpoint kurz vor Coldwater Ridge, an dem sich die Weltpresse breit gemacht hat. Seine 35-Millimeter-Kamera sticht heraus aus den modernen Gerätschaften der Fernsehsender, aus den Übertragungswagen und Satellitenschüsseln, den wuscheligen Mikrofonen, gepuderten Reportern und grellen Scheinwerfern.

George V. Casey sitzt einfach nur da im Getümmel und schaut sie an, St. Helens. "Sie ist einer der am meisten beobachteten und mit Geräten übersäten Vulkane der Welt, aber sie steckt immer noch voller Überraschungen. Ich bleibe so lange hier sitzen, bis sie weiß, dass ich da bin", sagt er und lacht. Er kann warten. Die Presse und er haben sich für längere Zeit hier eingerichtet.

Bei Judy Todd laufen die Dinge weniger entspannt. Da oben ist die Hölle los, und sie sitzt ein paar Kilometer weiter unten mit einer großen Platte Rührei und French Toast am Frühstückstisch.

Sie spuckt am Tagesplan vorbei

"Verdammt noch mal, ich kann nicht glauben, dass sie es schon wieder beim Essen macht", sagt Judy Todd, starrt aus dem Fenster auf den Berg, der in der Ferne steht und raucht. Es ist neun Uhr morgens. Dann rast sie los Richtung Eruption.

So geht das seit Tagen, der Berg spuckt immer knapp an Judy Todds Tagesplan vorbei Dinge in den Himmel. Nur der große Ausbruch bleibt aus. Mount St. Helens, zickiges Mädchen. Judy Todd kommt aus Texas, und langsam bekommt sie ein Zeitproblem. Morgen früh geht der Flieger. Der Berg muss also in den nächsten Stunden hochgehen, sonst war alles umsonst.

Als sie endlich oben ankommt, hängt aus dem Krater noch die Wolke vom verpassten Ausbruch. Sie steht am Himmel wie ein Vogel, dann sieht sie aus wie eine Spitzhacke. Und der Berg sieht blau aus. St. Helens hat viele Gesichter. Judy Todd hat keinen Blick dafür, sie will Lava sehen.

Lieber sterben, als den Ausbruch verpassen.

Elf Kilometer liegen zwischen ihr und dem Berg. Das ist nicht viel. Aber die Texanerin war schon ein paar Kilometer näher dran. Am Wochenende, als das Johnston Ridge Observatory noch offen war. Doch dann war wieder so ein kleiner Ausbruch, und man hat sie und die anderen aus dem Gebäude evakuiert. Ein paar waren störrisch, wollten bleiben.

Lieber sterben, als den Ausbruch verpassen. Doch die meisten blieben ruhig, es war wie ein Test, Panik wäre das schlimmste, was ihnen im Ernstfall passieren könnte. Judy Todd stand kurz danach im Stau hinunter zum Coldwater Ridge Center und starrte auf die Baumstümpfe, die beim Ausbruch 1980 abrasiert wurden und noch auf den Hängen herumliegen wie Zahnstocher. Angst hatte sie nicht.

Angst haben die, die hier leben und sich erinnern. Sharon Palmer zum Beispiel. Sie geht da nicht hoch. Sie muss nur an den Hund denken, der seit Tagen apathisch herumhängt. Und die Katze, die eigenartig ist. Und die Bienen, die verschwunden sind. 1980, sagen die Leute, seien die Vögel verstummt, bevor es passierte. Dann schaut Sharon Palmer zum Berg, wo die Aschewolke Richtung Nordost abzieht. "Schön ist es schon. Schön war es auch damals. Aber ich hoffe, dass sie sich bald wieder schlafen legt."

Magma mag Umwege

2549 Meter ist der Berg hoch. Oder besser das, was seit 1980 von ihm übrig geblieben ist. Ein gigantischer Krater, dessen schneebedeckte Krone grau ist von der eigenen Asche. Doch jetzt ist Ruhe, St. Helens steht ein paar Stunden nach dem Ausbruch am Morgen wieder da, als wäre nichts passiert.

"Pupse" nennen die Geologen diese kleineren Ausbrüche. Aber für Pupse ist Judy Todd nicht den ganzen Weg aus Texas gekommen. Also wartet sie, Stunde um Stunde, schüttet Cola light in sich hinein. Drinnen im Souvenirshop verkaufen sie das alte Desaster, während sie draußen auf das nächste warten. "Ich will Magma, und ich will es zwischen meinen Zähnen spüren", sagt Judy Todd. Gelächter am Nebentisch. Im Fernsehen haben sie deutsche Touristen gezeigt, denen das TV-Team erst sagen musste, dass hinter ihrem Rücken gerade ein Vulkan ausbricht. Auch das gibt es.

Dann ist Aufregung auf der Terrasse. Rauch steigt auf im Krater. Kameras werden auf Stative gesetzt, Objektive rausgeholt, Bücher und Burger aus der Hand gelegt. Aber es ist nur ein kleiner Steinschlag.

Fehlalarm. "Diese Apokalypse weigert sich zu kooperieren", schrieb einer der Touristen, die nach dem Ausbruch 1980 hierher eilten und in einer zerstörten Welt nach Abenteuern suchten. Sie reisten vom Vulkan enttäuscht wieder ab, er hatte nichts mehr zu bieten. "Wenn ich der Berg wäre, ich würde dasselbe machen, ich würde mit ihnen spielen", sagt ein Mann aus Oregon.

Der Berg spielt mit Dir

Manchmal glaubt selbst Carl Thornburn, dass der Berg mit ihm spielt. Er ist der Mann, der in den letzten Tagen die Pressekonferenzen oben am Journalistencamp abgehalten hat. Er ist der Mann, der der Welt nach jedem Ausbruch erklären soll, was da drinnen vor sich geht. Doch auch er kann nicht sagen, wann und ob St. Helens in den nächsten Tagen oder Wochen eine große Eruption haben wird. Während des morgendlichen Ausbruchs war gespenstische Ruhe, keine Beben, nichts. Unerklärlich.

Danach haben sie den Vulkanalarm von drei auf zwei zurückgestuft. Die Fragen bleiben. "Wir verstehen nicht wirklich, was da drinnen vor sich geht. Wir können ja nicht einfach Löcher reinbohren", sagt Thornburn und lächelt in die Kameras.

Nur eines wissen sie sicher, Mount St. Helens ist der mit Abstand aktivste aller Vulkane in der Bergkette der Cascaden. "Und er ist spannend", sagt Carl Thornburn. Denn er ist nicht wie die Vulkane auf Hawaii, aus denen das Magma langsam und einigermaßen kontrollierbar herauskommt. Hier muss sich das Magma durch verschiedene Schichten und ineinander geschobene Platten nach oben arbeiten. Es ist unrein, bleibt stecken, baut Druck auf, bis es ausbricht, unkontrollierbar, unberechenbar, wie 1980.

Carl Thornburn lehnt übermüdet an seinem Auto, ein bisschen abseits von Kameras und Fragen. Man merkt ihm an, dass er glücklich ist. Weil er ihr nahe sein darf: der Unberechenbaren, der Launischen, der Schönen. St. Helens.

© SZ vom 8.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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