Russische Kälte:Untermieterin des Frosts

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Trotz der Eiseskälte leben viele Moskauer Obdachlose weiterhin im Freien - die deutschstämmige Alla ist eine von ihnen. Eine Reportage von Daniel Brössler

Gefragt ist jetzt eine würzige Räucherwurst. Sie darf acht Buchstaben lang sein, was Alla vor kein wirkliches Problem stellt. "Serwelat" notiert sie nach kurzer Überlegung auf Russisch.

Zwei Obdachlose suchen etwas Wärme auf einem Luftschacht gegen Temperaturen von minus 30 Grad in Moskau. (Foto: Foto: dpa)

Die Frage nach der Zervelatwurst findet sie fast beleidigend simpel. "Ich bin studierte Juristin", sagt sie. Alla schreibt langsam, und ihre rötliche Hand zittert ein wenig dabei. "So vertreibe ich mir die Zeit", berichtet sie etwas mühsam im deutschen Dialekt ihrer Eltern.

Sie sagt das so, als gebe es nichts Normaleres, als bei minus 20 Grad am Ufer der Moskwa ein Kreuzworträtsel zu lösen. Alla trägt sechs Pullis, eine zerschlissene bräunliche Jacke, hat es sich unter Decken und einer Plastikplane bequem gemacht und geht ihrer Lieblingsbeschäftigung nach.

"Sie stören mich"

Ihre Hände frieren dabei und das, obwohl ihr eine freundliche Moskauerin kürzlich bunte Stoffhandschuhe gebracht hat. "Sie stören mich beim Schreiben", erläutert Alla.

Vom Kreuzworträtsel im Revolverblatt Moskowskij Komsomolez aber lässt sich Alla durch nichts stören, schon gar nicht durch den Frost, der seit einer Woche ihr Zuhause heimsucht, das Plätzchen gegenüber dem Heizkraftwerk am Moskauer Bereschkowskaja-Ufer.

Vor drei Jahren hat sie ihr Lager aufgeschlagen an einem Entlüftungsrohr des Kraftwerks, aus dem unentwegt ein laues Lüftchen entweicht. Nicht wirklich warm, aber warm genug, um nicht zu erfrieren. Nicht einmal dann, wenn die Temperaturen sich nachts bedrohlich der Minus-vierzig-Grad-Marke nähern.

Natürlich gibt es auch in Moskau Obdachlosenunterkünfte. Und Behörden, die dafür sorgen sollen, dass bei arktischen Temperaturen niemand mehr auf der Straße leben muss. Doch mit Alla und ihrem Leben hat das alles wenig zu tun. Vielleicht deshalb, weil sie sich auf Behörden hat nie wirklich verlassen können.

Ein sehr deutscher Nachname

Alla ist vor 56 Jahren mit einem sehr deutschen Nachnamen, der nicht in der Zeitung stehen soll, in der kasachischen Stadt Alma-Ata zur Welt gekommen. Als lutheranische Deutsche waren ihre Eltern 1941 auf Geheiß Stalins nach Zentralasien deportiert worden.

Alla konnte trotzdem später Jura studieren, heiratete, zog in den russischen Teil der Sowjetunion; seit 1988 lebt sie nun in Moskau, wo - zumindest nach ihren Erzählungen - vor fünf Jahren ihr Unglück begann.

Damals sei ihr Mann an Krebs gestorben, vor drei Jahren sei dann ihr Sohn ermordet worden. Ihre Wohnung habe sie verkauft, um das Begräbnis zu bezahlen, behauptet sie. Sicher jedenfalls ist, dass eine Menge schief gegangen ist und vor drei Jahren das Bereschkowskaja-Ufer zu ihrem Wohnort wurde.

Alla kennen hier alle, die Milizionäre ebenso wie die Wachleute vom Kraftwerk. "Sie beschützen mich", sagt sie und schildert eine Vereinbarung, für die sie nur ihren Reisigkehrer braucht: "Ich passe auf, dass es hier sauber bleibt. Dafür werde ich in Ruhe gelassen."

Wenn es so kalt ist, dass sie weinen muss

In Allas Leben bietet dieses kleine Geschäft die vielleicht einzige Sicherheit - eine Sicherheit, die sie wohl nicht aufgeben will für ein warmes Bett im Obdachlosenheim. Auch nicht, wenn es so kalt wird, dass sie vor Verzweiflung weinen muss.

Als ihr im vergangenen Winter die Zehen abgefroren waren, hatte sie gedacht, dass es nicht schlimmer kommen würde. Einen Winter, den die Meteorologen arktisch nennen, hatte sie sich nicht vorstellen können. Einen Winter, in dem nicht einmal alle mit einem Plattenbaudach über dem Kopf es wirklich warm haben.

Doch ausgerechnet in diesem Winter ist sie bisher gesund geblieben. Alla kennt sich mittlerweile aus, hat sich wärmer angezogen, und sie hat ihre Thermosflasche, die gelegentlich mit heißem Tee gefüllt wird.

135 Menschen sind nach offiziellen Angaben in Moskau seit Beginn des Winters erfroren. Viele nehmen Hilfe gar nicht in Anspruch. Nach Beginn der Kältewelle waren Moskaus Obdachlosenunterkünfte noch nicht einmal zur Hälfte gefüllt.

Auf der Straße lebt man gefährlich

Trotz der Beschützer und der Decken und der Thermoskanne ist es auf der Straße gefährlich, und Alla weiß das. Sie träumt von einem anderen Leben, auch wenn sie nicht mehr genau zu sagen weiß, von welchem. "Die Deutschen könnten mir helfen", findet sie, doch der Gedanke verflüchtigt sich schnell.

Alla kramt in einer Tüte und holt Brot hervor für die Tauben, die so stets in ihrer Nähe bleiben. Und wenn Alla nicht Tauben füttert oder Rätsel löst, blickt sie auf die Schornsteine gegenüber.

Weißer Rauch steigt auf, und das ist gut. Solange das alte Kraftwerk gegen den Frost anheizt, so lange strömt auch der laue Wind aus dem Entlüftungsrohr. Alla hat einen Kanister mit Wasser davor platziert. Eingefroren ist es bisher nicht.

© SZ vom 24.1.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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