Riechen:Immer der Nase nach

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Zwischen Riechblindheit und dem perfekten Sinn für Düfte: Wie der Mensch Gerüche wahrnimmt.

Von Holger Wormer

Die Sache mit dem Auto hätte für Hartwig Spenker tödlich enden können: Nichts hat er bemerkt, als wegen eines Lochs im Auspuff Abgase in den Innenraum drangen.

(Foto: Foto: dpa)

Seine Freundin hat die Gefahr gerade noch rechtzeitig gerochen. Spenker selbst war die Welt der Wohlgerüche damals ebenso verborgen wie übler Gestank. Nach einer schweren Grippe litt er unter Geruchsblindheit - "Anosmie", wie Riech-Experten sagen.

Mehr als fünf Jahre ist das nun her mit der defekten Nase. Heute sitzt Hartwig Spenker vor einer Kaffeetasse, wie vor einem Relikt aus jener Zeit, als ein Rest von Kaffeegeruch das einzige war, was seine Nase dem Gehirn mitzuteilen hatte.

Selbst wenn Kollegen in der Kantine über "Schlangenfraß" klagten - Spenker aß es ohne Murren. Da die Nase auch den größten Teil des Geschmackssinns ausmacht, schmeckte er außer süß, sauer, salzig und bitter nichts. So wie ein Blinder beim Überqueren der Straße oft auf Hilfe angewiesen ist, mussten ihn andere vor verdorbenem Essen warnen. Oder eben vor Abgasen aus dem Auspuff.

Doch so störend die geruchlose Zeit auch war, bevor sich seine Nase über die Jahre langsam erholte: "Der Riechsinn ist der Sinn, auf den man noch am ehesten verzichten könnte", sagt Spenker.

Immerhin erfährt man auf Merkblättern über seinen Beruf als Tontechniker, die er auf einem Stand des NDR in Braunschweig verteilt, dass "einwandfreies Gehör und die Fähigkeit, Farben zu erkennen, unabdingbare Voraussetzung dieser Ausbildung" sind.

Massenmedien nutzen Auge und Ohr, von Nase keine Spur. Kein Wunder, dass die meisten Menschen ähnlich entscheiden wie Spenker.

Sandrine Videault käme wohl nie auf diese Idee. Die Französin verdient mit ihrer Nase Geld. In Paris komponiert sie edle Düfte für Firmen wie Esteban. Für L'Oréal hat sie ein Parfüm rekonstruiert, das so ähnlich schon die alten Ägypter benutzten.

"Nasen", wie die Franzosen Parfüm-Erfinderinnen nennen, können mit Gerüchen Geschichten erzählen - und sind so selten wie gefragt in der Parfüm-Industrie. "Die Gerüche sind für mich wie Sprache", sagt Sandrine Videault. "Und manchmal frage ich mich, ob nicht Intuition und Nase eng verbunden sind."

Auf der Suche nach Antworten auf die Frage, wie wichtig die Durchschnittsnase zwischen den Extremen "Riechblindheit" und "perfektem Duftsinn" ist, nehmen wir zwischen Braunschweig und Paris die Spur zu einem großen Geruchsforscher Deutschlands auf.

Wer den Experten für Riechsinn finden will, braucht Orientierungssinn: Würde man im Labyrinth der Universität Bochum nach dem Weg fragen, müsste man wohl mit Kalauern wie "Immer der Nase nach" rechnen. Endlich im Obergeschoss des Gebäudes "ND4" angekommen, verheißt ein helles Büro mit Blick ins Ruhrtal Frischluft nach dem Weg durch miefige Keller.

Vielversprechend klingen auch die Buchtitel in den Regalen: "Magie der Düfte."

Hanns Hatt selbst ist nicht anzusehen, dass für ihn einer der menschlichen Sinne besondere Bedeutung hat. Der 56-jährige Professor wirkt ruhig, obwohl er wenig Zeit hat. Also gleich zur Sache: Die wichtigsten Erkenntnisse der Riechforschung der letzten Jahre?

Hatt antwortet präzise. Erstens: Forscher wie er haben in Riechzellen der Nase erst eine Hand voll "Rezeptoren" identifiziert, an die Duftmoleküle mit passender chemischer Struktur andocken.

Denn nüchtern betrachtet bedeutet "Riechen" Einfangen und Erkennen von Molekülen aus der Luft.

Zweitens: Der Mensch hat etwa 350 Typen von Riechzellen mit 350 verschiedenen Andockstellen. Und jeder dieser Riechzelltypen reagiert mit seiner Andockstelle nur auf eine chemische Klasse von Duftstoffen.

Drittens: Hat ein Duftstoff an einer Riechzelle angedockt, wird die chemische Information in elektrische Impulse umgewandelt und überarbeitet.

Dann werden die Signale per Nervenleitung immer auf dem gleichen Weg ins Gehirn gesendet.

Viertens: Immer noch rätseln Forscher über eine Variante des Geruchssinns, der nicht den Weg über die Nase nimmt. Einige Riechrezeptoren jedenfalls hat man inzwischen sogar außerhalb der Nase gefunden, auf Hautzellen ebenso wie auf Spermazellen.

Hatt reicht eine Farbkopie über den Tisch, auf der grüne Spermien mit leuchtenden Köpfen zu sehen sind, die an einem Molekül zu schnuppern scheinen.

Es ist eine Titelseite der Fachzeitschrift Science vom März 2003. Hatt und Kollegen haben darin über Riechrezeptoren bei Spermien berichtet, die sich bei der Suche nach Eizellen vom Geruch des Moleküls "Bourgeonal" leiten lassen.

Andere Moleküle dagegen blockieren die "Nase" der Spermien, was man nutzen könnte, um Verhütungsmittel zu entwickeln.

Der Geruchssinn von Spermien ist im Vergleich zur Nase freilich bescheiden. Ungefähr 30 Millionen Zellen tun dort ihren Dienst, von jedem der 350 Typen mehrere Zehntausend.

Alle vier Wochen erneuert der Körper alle 30 Millionen Riechzellen mit Hilfe "adulter Stammzellen" in der Nase. Außer es geschieht das, was Hartwig Spenker erlebt hat: Nach seiner Grippe hatten Viren nicht nur alle Riechzellen zerstört, sondern auch noch einige Stammzellen.

Der Nachschub war verzögert. Manche Patienten verlieren dadurch für immer den Geruchssinn, eine Therapie gibt es nicht. Meist kehren die Gerüche aber wie bei Spenker über Monate hinweg von allein zurück.

Für viele ist diese Zeit schlimmer als der totale Verlust des Geruchs. Auch das hängt mit den 350 Riechzelltypen zusammen. Denn diese erholen sich nicht alle gleichzeitig.

Eine Welt aus Gestank

Oft riechen die Patienten daher aus einem Mix vieler Duftmoleküle zeitweise nur jene, die allein unangenehm sind, im Gemisch aber nicht auffallen: "Das verlockendste Parfüm stank bestialisch, und nach dem Waschen mochte ich meine Hände nicht mehr riechen", erinnert sich Spenker.

"Für manche Patienten mit Riechstörung schmeckt Bier wie Fleckenwasser und Kaffee nach Benzin", ergänzt Hanns Hatt. Der Ekel sei so groß, dass sie sich kaum normal ernähren können: "Manche wollen dann, dass man ihnen die restlichen Zellen auch zerstört."

Gar nichts zu riechen, ist für sie erträglicher als eine Welt aus Gestank.

Doch selbst Gesunde sind mit ihren Riechzell-Typen bescheiden ausgestattet, jedenfalls im Vergleich zu vielen Säugetieren: Von ungefähr 1000 Genen im Erbgut, die Baupläne für Geruchsrezeptoren enthalten, sind beim Menschen zwei Drittel stillgelegt.

Bei Affen ist es umgekehrt: ein Drittel still, zwei Drittel aktiv. Möglicherweise, so spekulierten gerade Forscher aus Leipzig und aus Israel, fiel der bessere Riechsinn in der Evolution dem Farbensehen zum Opfer.

Der direkte Draht

Beim Menschen ist das Auge so dominant, dass es Gerüche leicht übertrumpft: Serviert man etwa einem Weinkenner billigen Fusel in edler Flasche, dominiert oft die Optik - der Kenner schwärmt, obwohl Mund und Nase Dürftiges bekommen.

Doch wenngleich Homo sapiens ein Augenmensch ist, hält Hanns Hatt die Nase nicht für einen "niederen Sinn". 350 aktive Riechgene im Erbgut seien immer noch "die größte Genfamilie überhaupt". Und obwohl der "unwiderstehliche Duft", mit dem Parfümhersteller werben, wissenschaftlich gesehen bisher nicht existiert, so steht doch fest: Anders als andere Sinneseindrücke haben Gerüche einen direkten Draht zu Zentren im Gehirn, die für Gefühle, Triebe und Hormone sorgen - ohne Umweg übers Bewusstsein. Ein Grund mehr, die Nase tiefer in die Bochumer Labors zu stecken.

Hier testen Hatts Mitarbeiter, welche Riechzelltypen auf welche Gruppen von Duftmolekülen reagieren. Duftmixturen werden mit Einwegspritzen, Plastikschläuchen und farbigen Ventilen auf Frosch-Eizellen gespritzt. Denen haben die Forscher zuvor das eine oder andere Gen für Riech-Rezeptoren eingesetzt. Passen die Duftmoleküle zu einem Rezeptor, entsteht in den Zellen durch Calcium-Ionen elektrische Erregung.

Blockierte Düfte

Damit die Düfte nicht überall herumfliegen, werden sie in braune Fläschchen gesperrt und im Kühlschrank gelagert. Immer wieder hält Hanns Hatt Besuchern die Fläschchen unter die Nase. Veilchenduft. Und die nächste? Maiglöckchen. Jetzt der Clou: Der Duft aus Flasche drei blockiert auf den Rezeptoren der Nase den Geruch von Flasche zwei - so ähnlich wie bei den Spermien.

Zum Glück für die Leute, die hier arbeiten, schafft es die Nase nach einer Weile auch von selbst, Gerüche auszublenden. Umgekehrt reicht ihr schon ein Teil einer Duftmischung, um einen Geruch zu erkennen. Hatt vergleicht diese Fähigkeit mit einem Kreuzworträtsel, bei dem das Gehirn fehlende Buchstaben ergänzt. Das erlaubt es auch der Industrie, für Aroma-Imitate viele Komponenten wegzulassen und trotzdem Rosenduft oder Orangenaroma vorzugaukeln.

Für Menschen wie Sandrine Videault ist das keine schöne Vorstellung. Mit geübter Nase komponiert sie Einzeldüfte zu einem Gesamtwerk. Keine leichte Aufgabe, immerhin setzt sich schon Blumenduft aus rund 100 Substanzen zusammen.

Um sich ihre Arbeit vorzustellen, muss jemand mit Durchschnittsnase auf andere Sinne zurückgreifen: Vielleicht ist es etwa so, als würde Tontechniker Hartwig Spenker, der Mann am Mischpult, an unzähligen Knöpfen drehen. "Die Hintergrund-Musik muss hörbar, aber dezent sein, damit sie den Sprechertext nicht überdeckt", sagt er. "Und bei Konzerten muss man darauf achten, dass die Geigen nicht zu laut sind."

Doch was in der Welt der Düfte die Geigen sind und was der Sprechertext ist, bleibt untrainierten Nasen verschlossen. "Dabei gibt es Duft-Akkorde, die wunderbare Gefühle erzeugen", sagt Hatt.

Und ebenso wie die Abneigung gegen Fäkalien oder faule Eier nicht naturgegeben ist, sondern erlernt wird, könnte man Wohlgerüche lernen. Doch während Musik-Unterricht an der Schule selbstverständlich ist, ist Riech-Unterricht die Ausnahme.

Immerhin: Sandrine Videault hat bereits einer Grundschulklasse Riech-Nachhilfe gegeben. Hanns Hatt hält das für eine gute Idee: "Politiker regen sich auf, wenn Kinder glauben, dass Kühe lila sind. Aber dass ein Kind nicht mehr weiß, wie Muskatnuss riecht oder Zimt, darüber regt sich niemand auf."

© SZ vom 20.2.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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