Reportage:Und Ivan ist schrecklich

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In der letzten Station vor dem Wahnsinn: Ein Blick in das Auge des Hurrikans. Das ist eindeutig keine gute Zeit, den Macho zu spielen.

Von Marc Hujer

Man kann Florida hassen mitten im Sturm und diese Dienstreise verfluchen, bei der man froh sein kann, endlich im Katastrophenhilfszentrum von Tallahassee angekommen zu sein. Es ist die letzte Station vor dem Wahnsinn, die letzte Illusion von Berechenbarkeit vor der Ankunft des Wirbelsturms Ivan, dessen Auge nur zwei Autostunden von hier an Land gehen wird.

Die Wetterexperten haben ein Gitter aus Längen- und Breitengraden über ihre Satellitenbilder gelegt, als ließe sich der Wirbelsturm Ivan darunter wegsperren wie ein Gefangener. Wie niedlich doch Naturgewalt sein kann, solange sie auf Millimeterpapier gebannt und auf moderne Flachbildschirme im Planungsraum der Katastrophenschützer projiziert wird. Draußen aber wartet der Highway 10, Direktweg ins Katastrophengebiet, über den vorhin eine Stimme im Autoradio ungläubig sagte: "Offen. Er ist immer noch offen."

Es sind kaum Privatautos mehr auf der Straße, schon gar keine Kleinwagen. Vor zwei Stunden, am Autobahnkreuz Lake City, war der Verkehr bereits dünn geworden, erschreckend dünn, wenn man bedenkt, dass der Wirbelsturm in diesem Moment noch mehr als 400 Kilometer und einen halben Tag entfernt war. Die Rastplätze werden jetzt nur noch von Männern in Camouflageanzügen besetzt, und auf der rechten Spur ziehen Hilfskonvois der Nationalgarde gemächlich wie Wüstenkarawanen nach Norden.

Seit Dienstagvormittag drängen die Behörden auf Evakuierung des Nordens von Florida, Hotels werden geschlossen und Häusereingänge verbarrikadiert.

Manchmal sieht man Nachzügler auf der Gegenfahrbahn. Es ist heller Tag, aber sie haben die Scheinwerfer an, als lauere hinter ihnen ein dunkler Schlund. Vielleicht hatte Gouverneur Jeb Bush ja recht, als er gestern sagte, es sei jetzt keine gute Zeit, den Macho zu spielen.

"Ich liebe euch. Ich liebe euch."

Florida jedenfalls ist seit Tagen im Ausnahmezustand, und selbst unten im Süden, wo es diesmal keine Sturmwarnung gab, waren die Häuser vernagelt und die Menschen bis nach Georgia geflohen. Vor einem Monat, am 13. August, hat hier der Wirbelsturm Charley ganze Stadtviertel verwüstet, kurz darauf ist Frances gekommen, der zweite Wirbelsturm der Saison. Man sieht die Verwüstungen bis weit in den Norden hinauf, an den verstreuten Schildern am Straßenrand und den Werbewänden, von denen nur Gerippe übrig geblieben sind.

Im Radio reden sie ständig von den Stürmen, vor allem von Frances, und dann sagen sie nur noch F-Wort dazu, verbotenes Wort, als verberge sich dahinter etwas so Schreckliches, dass man es in einem Familiensender keinesfalls sagen dürfe. "Ich liebe euch", ruft eine Hörerin den Moderatoren auf Frequenz FM 105.5 zu. "Als ich keinen Strom mehr hatte, hatte ich nur noch mein Kofferradio, eine Batterie und euch. Ihr schafft es, dass das Leben weiter geht. Ich liebe euch. Ich liebe euch".

Es ist keine bequeme Reise durch Florida, vor allem, wenn man nicht rechtzeitig ein Zimmer reserviert hat. Die Parkplätze der Hotels sind voll von Katastrophenschutzwagen, von Kränen und Kleinlastern der Hilfskräfte, die das Land überschwemmt haben wie Touristen in der Hochsaison. An vielen Hotels haben genervte Rezeptionisten Zettel angebracht, auf denen steht, dass es keine Zimmer mehr gibt.

Wenn man trotzdem in die Lobbys geht, in Palm Beach im Süden, oder weiter oben in Port St. Lucie oder Coco Beach, trifft man auf Menschen, die auf den resigniert klingenden Satz umgestellt haben: "Sie haben kein Zimmer mehr frei, oder?" Nur Orlando, die Heimat von Disneyland, kann jetzt noch helfen, weil es dort, wie jemand sagt, neunmal so viele Hotelzimmer wie Einwohner gibt.

Nur im Krisengebiet selbst kann man buchen, im Comfort Inn in Pensacola, am anderen Ende von Highway 10. Im Radio klagt jemand, dass das Wetter die Vereinigten Staaten "terrorisiert". Man erfährt, dass es vor Pensacola die ersten Tornadototen gegeben hat. Ein Katastrophenhelfer sagt: "Drehen Sie um, bleiben Sie in Tallahassee." Und wie man später im Fernsehen sieht, ist Highway 10 inzwischen Tornadogebiet. Drüben in Pensacola wartet noch immer ein Zimmer. Man sollte absagen, wenigstens das. Auch wenn der Sturm jetzt beinahe an Land ist. Das Telefon klingelt, neunmal, zehnmal, aber niemand nimmt ab.

© SZ vom 17.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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