Reportage:Schockwellen, die die Welt erschüttern

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Vom Meer haben sie gelebt, dem Meer haben sie vertraut, jetzt kam von dort der Tod -- wie die Menschen im Flut-Chaos nach Halt suchen.

Singapur, 27. Dezember -- Gut möglich, dass sie Weihnachten feierten in der fensterlosen Kirche, die den Blick weit offen ließ auf die Bucht von Batticaloa. Pastor Selvadurai Jeyanesan liebte es, Festtage in stundenlangen Gottesdiensten zu zelebrieren mit dem Kinderchor von St. John. Seine Schützlinge besaßen Engelsstimmen, welche die Erdwälle und Stacheldrahtverhaue in der Stadt vergessen machten, die an der srilankischen Ostküste liegt.

Die Waffen schwiegen zwar seit drei Jahren zwischen der srilankischen Armee und den tamilischen Rebellen, die sich fast zwei Jahrzehnte lang einen grausamen Dschungelkrieg geliefert hatten. 65 000 Tote und eine Million Vertriebene waren die blutige Bilanz. Keine Palme und kein Haus stand mehr im Hinterland von Batticaloa. Die Ortschaft lag am Rande einer verkohlten Kraterlandschaft, geteilt in Einflusszonen. Die amerikanische Mission, die aus einigen Pavillons am Strand bestand, galt als neutraler Boden, als eine Oase des Friedens, in der 170 tamilische Waisenkinder Zuflucht gesucht und gefunden hatten.

Überall tödliche Minen

Niemand weiß, wo sie geblieben sind: Pastor Jeyanesan und seine Kinder werden vermisst. Augenzeugen berichten, dass Batticaloa aussieht wie nach einem Bombardement. Die Riesenwellen vom Sonntag verwüsteten, was der Bürgerkrieg stehen gelassen hatte. Die Wassermassen schlugen mit einer solchen Wucht über der srilankischen Nordostküste zusammen, dass die Tretminen aus dem Erdreich katapultiert wurden.

Die Wellen drückten, was sich ihnen in den Weg stellte, bis zu zwei Kilometer weit ins Landesinnere. Leichen hingen in Bäumen und in Stacheldrähten. Der Boden ist jetzt noch übersät mit Trümmern und tödlichen Minen. Weggerissene Dächer und entwurzelte Palmen treiben zwischen umgestürzten Bussen und gekenterten Booten im Meer. Von den paar verschlafenen Küstenstädtchen im Nordosten ist den Gerüchten zufolge nicht viel mehr übrig als Schutt.

Angst geht um in der srilankischen Hauptstadt Colombo, die Angst davor, dass praktisch alle Bewohner dieser Orte der Naturkatastrophe zum Opfer gefallen sind. Es gibt nur wenige Informationen. Die tamilischen Befreiungstiger, die das Gebiet kontrollieren, sprechen auf ihrer Webseite von 1800 geborgenen Leichen und "der größten Katastrophe, die das tamilische Volk je heimgesucht hat". Der srilankische Militärsprecher betont, dass die amtliche Opferzahl, welche die Regierung in Colombo mittlerweile mit 11 000 Menschen beziffert, nur die Toten im Süden der Insel umfasst, nicht aber die in den Tamilengebieten.

Zappelnde Fische

Hans Wirz, der Kanzleichef der schweizerischen Botschaft, kann sich glücklich schätzen, mit dem Schrecken davongekommen zu sein. Es war ein gespenstisches Schauspiel, das sich ihm am Sonntagvormittag im Urlaubsort Bentota bot. Die erwachsenen Badegäste verfolgten, erschreckt und fasziniert zugleich, wie sich die Wellen zunächst ins Meer zurückzogen. Die Kinder sprangen kreischend um die Fische herum, die auf dem Trockenen zappelten. Und schon machten sich die fliegenden Händler daran, den unverhofften Fang einzusammeln -- als sich im Meer eine weiße Wand aufbaute, so weit das Auge reichte.

Erst als das Ungetüm tosend auf den Strand zuraste, machte sich Panik breit. Die erste Woge spülte nur das Strandgestühl mit sich, doch höher und höher türmten sich im Meer die Wassermassen auf. Die dritte Woge zerschmetterte schließlich die Ferienanlagen, die sich entlang des Ufers hinzogen. Das Getöse vor der Tür kam für viele zu spät, die sich in den historischen Häusern innerhalb der holländischen Festung von Galle, an der Südspitze Sri Lankas, befanden, denn schon schlug eine zehn Meter hohe Welle über ihnen zusammen.

Das Wasser füllte die Erdgeschosse der Häuser innerhalb von Sekunden. Ein britisches Paar vermochte gerade noch rechtzeitig hinauszuschwimmen, bevor die Fenster eingedrückt und die Wände gesprengt wurden. Die Flut trieb sie mehrere hundert Meter zwischen Kühlschränken und Motorrollern vor sich her, bevor sie sich verzweifelt an einem Pfeiler festklammern konnten.

Machtvoller kann auch die Hölle nicht sein. Die Gewalt des Wassers schmetterte eines der größten Kriegsschiffe der srilankischen Marine krachend auf einen Pier. Es war erst vor kurzem von der Volksrepublik China erworben worden. Schlammmassen begruben Teile der Altstadt von Galle unter sich.

Der deutsche Botschafter in Colombo, Jürgen Weerth, genoss derweil sein Frühstück. Nichts, aber auch gar nichts bekam er von den gewaltigen Flutwellen mit, die nur ein paar Dutzend Kilometer entfernt unzählige Menschenopfer forderten. Ein Telefonanruf schreckte ihn vom Kaffee auf. Die erste Woge hatte im Zentrum der srilankischen Hauptstadt die Kanaldeckel gesprengt, die nachfolgenden überfluteten die idyllische Uferpromenade und setzten die anliegenden Prachtbauten unter Wasser. Damit hatte es sich. Die spektakulären Riesenwellen waren im Herzen der Landeskapitale nicht viel mehr als ein Naturspektakel.

Bereits in den Slums am Rande der Stadt sieht es anders aus. Denn die Katastrophe hat dem deutschen Botschafter zufolge in erster Linie die Einheimischen getroffen. Tausende von ausländischen Touristen sind besser weggekommen, sie sind mittlerweile gestrandet in den Urlaubsorten im Süden der Insel -- gestrandet, weil das Meer all seine Wut über sie ausgegossen hat.

Tsunami bedeutet "lange Hafenwelle" auf Japanisch -- und wenn eine Bezeichnung in die Irre führt, dann diese. Denn Tsunamis sind alles andere als harmlos, sie sind mörderisch -- und heimtückisch. Japanische Fischer, auf die dieser Begriff zurückgeht, hatten während des Fischfangs auf hoher See meist nichts von der tödlichen Kraft bemerkt, erst als sie zurückkehrten in ihre Heimathäfen, sahen sie, dass das Meer, auf dem sie unbehelligt umhergesegelt waren, ihre Dörfer verwüstet hatte.

Denn ihre ungeheure Zerstörungskraft entfalten diese Riesenwellen erst, wenn sie auf eine Küste treffen. Die Wellen, die im offenen Meer nur eine Höhe von einem Meter haben, türmen sich dann zu Wasserwänden auf mit Höhen von mehr als 30 Metern. Am Gewaltigsten werden sie in Buchten, aus denen das Wasser seitlich nicht mehr ausweichen kann.

In Fjorden ist es auf diese Weise zu Wellenhöhen von fast 100 Metern gekommen, die höchste jemals beobachtete Welle soll am 9. Juli 1958 in der Lituya Bay (Alaska) entstanden sein: 524 Meter hat man damals gemessen, die Ursache war ein unterseeischer Erdrutsch. Die Entfernung zwischen zwei Wellenbergen beträgt in der Regel rund 150 Kilometer und nicht, wie bei von Wind erzeugten Wellen, nur wenige Meter. Kurz: Tsunamis haben Fähigkeiten, über die sonst nur modernste Düsenjets verfügen. Sie können Tausende von Kilometern zurücklegen und erreichen nicht selten eine Geschwindigkeit von 700 Stundenkilometern. Niemand kann ihnen entfliehen.

Das Zählen der Toten

Auch in Phuket nicht. Auch dort kam die Katastrophe aus dem Nichts. Ohne Vorwarnung. Auch dort verschwand das Wasser erst, zog sich zusammen, sammelte sich für seinen gewalttätigen Angriff. Dann kam es, aufgetürmt wie das Wehr einer Talsperre. Es war früh am Morgen an diesem Sonntag. Danach, sagte eine englische Touristin im thailändischen Phuket, war es, als sei sie in eine Waschmaschine geraten. Immer und immer wieder wirbelte es sie herum. Zusammen mit dem Müll dieser Trauminsel, mit Klappstühlen, Sonnenschirmen und Badelatschen. Ihre Tochter hielt sie an der Hand fest. Es war der Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertags. Vorangegangen war eine Nacht im Paradies, Vollmond, Wärme, das leise Plätschern der Wellen am Strand.

Am Tag danach starrt die Welt auf das Chaos. Und es beginnt das Zählen der Toten. Es ist eine Zahl, die sich immer höher schraubt, von den Tausenden in die Zehntausende. Und mittendrin das Bild einer Mutter. Es ist eine Fischersfrau auf Sri Lanka. Sie hockt auf dem Boden, vor ihr liegen ein paar kleine weiße Häufchen. Ihre toten Kinder, eingewickelt in Laken, bereit für eine Massenbeerdigung, weil die Kinder schnell zur Gefahr werden. Kleine, leblose Seuchenherde. Und irgendwo draußen, auf dem Meer, ist der Mann, der Vater. Niemand weiß, ob er zurückkehren wird. Hier an Land gibt es nichts mehr, kein Haus, keine Familie, keinen Trost. Ein Leben lang haben sie vom Meer gelebt, jetzt hat ihnen das Meer alles genommen. Diese Welle, von der sie nicht wissen, wo sie herkam und wo sie hinging. Sie trauen ihm nicht mehr, dem Wasser.

Keiner erinnert sich daran, dass das Meer jemals so böse war. Aber es gab diese Tsunamis auch im Indischen Ozean, immer wieder. 1945 töteten sie Hunderte bei Bombay. Und die ersten Tsunamis, die in der Region je registriert wurden, verwüsteten 1762 das jetzige Bangladesch.

Das Epizentrum dessen, was die Menschen an diesem Morgen in Südasien überfallen hat, war an der Schnittstelle zweier tektonischer Platten. Tief unten im Meer. Seismologen des United States Geological Survey sagen, dass der Ozean westlich von Sumatra und die Inselketten an seinem Norden besonders erdbebengefährdet seien wegen der permanenten Kollisionen der beiden tektonischen Platten unter den Inseln und Teilen des Kontinents. Immer weiter schiebt sich die indische Platte Richtung Nordosten, jedes Jahr fünf bis sechs Zentimeter. Und irgendwann passiert es dann, etwas bricht, einer Schockwelle gleich schießt eine Wassersäule nach oben, dann geraten die Dinge in Bewegung und das Meer in Wallung, dann rast es los, schnell und unaufhaltsam.

Und doch wäre noch genug Zeit gewesen, die Bewohner zu warnen, wenn der Indische Ozean ein ähnliches Warnsystem hätte wie die Inseln im Pazifik, sagte der aus Indien stammende Tsunami-Experte Tad Murty in der New York Times. Die gerade an den Küsten so stark bevölkerten Länder Südasiens hätten schon lange ein Tsunami-Warnsystem installieren müssen. Andere Wissenschaftler haben ähnliche Bedenken geäußert. Doch gerade in den besonders gefährdeten Gebieten habe man die Gefahr wohl auf die leichte Schulter genommen. "Indien, Thailand, Malaysien und andere Länder der Region", so Tad Murty, "haben die Tsunamis mehr als ein Problem des Pazifiks betrachtet." Ein tragischer Irrtum.

Wie die Heuschrecken

Denn dass Vorsorge etwas bringt, zeigt der Pazifik. Innerhalb von 15 Minuten reagiert dort das Tsunami-Warnsystem. Auch an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag wurden von dem Zentrum in Honolulu Warnungen an 26 Länder gesendet. Aber man hatte nicht die Möglichkeit, die Informationen schnell genug an die jetzt betroffenen Länder weiterzuleiten, sagt Laura S. L. Kong, Direktorin des Internationalen Tsunami Informationszentrums. Man habe zwar sofort in den Gefahrenzonen angerufen, sagt sie, aber all das ging nicht so schnell, wie das mit einem Notfall-System möglich wäre. "Außerhalb des Pazifik kommen diese Dinge nicht sehr oft vor, also war es bislang schwierig, die Menschen und Regierungen auf das Problem aufmerksam zu machen."

Auch wenn sich das jetzt ändern sollte, für die Opfer käme das System ohnehin zu spät. Und es gibt ja auch viele, die Glück hatten. Kevin Aldrich zum Beispiel schlief noch in seinem Hotel in Phang Nga in Thailand, als der Lärm anfing. Erst dachte er, jemand klopfe an die Türe, dann wurde er von der Welle aus dem Fenster gespült. Irgendwann habe er sich an einen Baum geklammert. Denn das Schlimmste sei das ablaufende Wasser gewesen, das die Menschen hinaustrug, in die Weite des Meeres. Für immer. "Ich wurde vom Druck des Wassers an einen Baum gedrückt, Trümmer und Leichen pressten sich an mich, ich dachte, ich werde zermalmt. Am Ende war das ganze Resort verschwunden."

"Mörderwelle" nennen sie in Asien das, was da über sie kam wie eine biblische Plage. In Indien rollten die gigantischen Wogen drei Stunden lang heran, im Abstand von zehn Minuten. In Thailand, Malaysia, Myanmar, Bangladesh, selbst in Somalia waren die Tsunami-Wellen noch zu spüren, dort sollen laut New York Times soar noch mehrere Menschen umgekommen sein. 6000 Kilometer vom Epizentrum entfernt.

Auch 2400 Kilometer entfernt war die gewaltige Kraft des unterirdischen Bebens noch zu spüren. Anders aber als an den Küsten näher liegender Länder kam das Unheil auf den Malediven schleichend. Keine heranstürzende Todeswelle, keine Gischtkronen, keine sich überschlagenden Wassermassen. Sondern ein heftiger Anstieg des Meeres. Atolle haben nicht die selbe starke Bremskraft großer Inseln, deshalb konnte sich die Energie der Wellen nicht aufstauen.

Mitten in der Nacht stand das Wasser plötzlich in den Hütten und Bungalows, überflutete wenig später die Betten und stieg in manchen Resorts in den südlichen Atollen so hoch, dass sich die Menschen auf die Dächer ihrer Behausungen zurückziehen mussten. Doch anders als an den Küsten Sri Lankas und Indiens verschwand es nicht bald wieder, sondern blieb über Stunden und zog sich dann ebenso langsam wieder zurück, wie es gekommen war. 17 Resorts meldeten Land unter und sind so zerstört, dass sie geschlossen werden mussten, die Bewohner wurden auf Nachbarinseln gebracht. Elf halten eine Art Notbetrieb aufrecht. In den anderen geht das Leben mit Einschränkungen weiter wie zuvor. Wenn das Leben nach solch einer Katastrophe überhaupt weitergehen kann wie zuvor.

Am meisten hat es, wie so oft, die Inseln der Einheimischen getroffen. Fünf Atolle sind untergegangen und wurden evakuiert. Auf den anderen ist Trinkwasser das Hauptproblem. Die Brunnen sind alle versalzen, Schiffe mit Süßwasser werden Tage brauchen, bis sie die weit verstreut liegenden Inseln versorgt haben werden. Denn nur die modernen Touristeninseln verfügen über Wasserentsalzungsanlagen und genug Energie für Pumpen und Maschinen. Katastrophen treffen immer die Armen am meisten.

Noch weiß niemand, was auf Andaman und Nicobar passiert ist. Abgelegene Inseln sind das mitten in der Bucht von Bengalen, bevölkert mit Stämmen, die noch nie Kontakt zur Zivilisation hatten. Bei der letzten Volkszählung hat man diese Menschen vom Boot aus gezählt, um sie vor Zivilisationskrankheiten zu schützen. Hier gibt es keine Telefone, keine Elektrizität, keine Medikamente, mit denen man die Folgen verseuchten Wassers bekämpfen könnte.

Das Leben geht weiter, mit allen Konsquenzen. In Sri Lanka hat die Regierung mittlerweile den Notstand ausgerufen. Sowohl die srilankische Präsidentin Chandrika Kumaratunga als auch die tamilische Guerilla flehen die internationale Gemeinschaft um Hilfe an angesichts von schätzungsweise 750 000 Obdachlosen.

Überall fehlt es an Benzin. Die Evakuierung stellt die Botschaften und Reiseunternehmen deshalb vor logistische Probleme. Manche Touristen besitzen nicht mehr als die Badehose. Kleider und Schuhe, Geld und Pass schwimmen in den Fluten oder liegen unter Trümmern begraben, wer weiß das schon. Vielleicht hat auch schon ein Plünderer die Wertsachen mitgehen lassen. Wie die Heuschrecken fielen Diebe im Schutz der Dunkelheit über die teilweise zerstörten Ferienanlagen her. Ob es Besucher waren oder Häftlinge, die dank der Flut aus dem Hochsicherheitsgefängnis bei Colombo entkamen, ist noch ein Rätsel. Fest steht für Hotelmanager Jayasinghe nur, dass die Not dem Bösen nutzt. Etwas anderes hat man von einer Katastrophe biblischen Ausmaßes nicht erwartet.

© SZ vom 28.12.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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