Reeperbahn in Hamburg:Auf der Suche nach dem St. Pauli-Code

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Die Davidwache ist ein Fixpunkt der Reeperbahn in Hamburg. (Foto: dpa)

Die Reeperbahn ist das Herz von St. Pauli, ist Ballermann, ist Sex, ist Eckkneipe, ist schick. Diese Mischung ist in Gefahr, fürchten die Bewohner - und kämpfen.

Von Hannah Beitzer, Hamburg

Zwischen Crêpes- und Bierstand, zwischen Touristen, die sich auf dem Spielbudenplatz zu einer Gruppe verklumpen und einer zweiten Touristen-Gruppe kurz vor der Davidwache treffen sie aufeinander. Acht Frauen mit rosa T-Shirts, auf denen steht: Susis letzte Tour. Und zehn Männer mit den schwarzen T-Shirts, auf denen steht: Ehe - eine hat Erbarmen. Sie verhandeln kichernd (Frauen) und grölend (Männer), wer wem 50 Cent für einen Kuss bezahlen muss.

Eine Frau mit Sektflasche in der Hand und weißem Brautschleier auf dem schwarz gefärbten Haar, vermutlich Susi, schaut ein bisschen verschämt. Ihr Gegenpart auf der anderen Seite dreht die fast leere Bierflasche in den Händen. Die Schnapsfläschchen, die an einem Geschenkband um seinen Hals hängen, klirren leise. Das ist eine ganz normale Situation, sind ganz normale Fragen, die an einem ganz normalen Samstagnachmittag dutzendfach verhandelt werden auf Deutschlands bekanntester Amüsiermeile: der Hamburger Reeperbahn.

Ist das Herz von St. Pauli in Gefahr?

Sie ist das Herz von St. Pauli, diesem legendären Stadtviertel, das so vieles beherbergt: die Herbertstraße mit den Damen in ihren Schaufenstern, Strip-Clubs, die es schon so lange gibt, dass die Comicfrauen, die an der Fassade für das Innere werben, noch buschiges Schamhaar tragen. Die Eckkneipen mit billigem Bier und ranzigem Interieur, in denen echte St. Paulianer auf Touristen treffen, die in ihren seltsam uniformhaften Junggesellenabschied-Verkleidungen hereinstolpern. Alternative Musikclubs, deren Programm so gar nichts mit dem Ballermann draußen auf der Straße zu tun hat und auch ein paar Läden, in die schickere Leute gehen, in die Tanzenden Türmen zum Beispiel, eine verwegene graue Hochhaus-Konstruktion, die an der Reeperbahn in Zickzack-Linien in den Himmel ragt.

Und natürlich gibt es hier in St. Pauli auch Menschen, die jeden Tag ihr stinknormales Leben leben.

Das ist eine wilde Mischung für einen einzigen, kleinen Stadtteil, schon immer gewesen. Doch viele St. Paulianer finden, dass in den vergangenen Jahren etwas aus dem Lot geraten ist. Das erzählt Julia Staron in dem kleinen und rumpeligen St. Pauli-Museum in der Davidstraße. Staron ist Betreiberin des Musikclubs "Kukuun" und seit gut einem Jahr Quartiersmanagerin im Viertel. Die Flächen in St. Pauli seien teuer geworden und begehrt. "Hier bauen inzwischen Leute, die haben null Bezug zum Stadtteil", sagt die Frau mit den kurzen, blonden Haaren und der rauen Stimme.

Zwischen Ballermann und Schickeria

Für Investoren lohnten sich nur noch zwei Geschäftsmodelle. Entweder sie setzten auf schick und teuer - so wie die Tanzenden Türme oder die Wohnungen des nahegelegenen Brauviertels. Oder sie setzen auf Masse: Systemgastronomie, Imbiss- und Trinkketten wie "Schweinske" und "Texas BBQ", Hauptsache viele Plätze, Hauptsache billig. Die kleinen Clubs, die Eckkneipen mit dem Wirt, der seit Jahrzehnten in St. Pauli lebt, können bei den steigenden Mieten nicht mithalten. Das schicke St. Pauli und das Ballermann-St. Pauli drohen so ein wichtiges Stück Kiezkultur zwischen sich aufzureiben.

Aber nicht nur die Investoren sind schuld, sondern auch die, die hierher zum Feiern kommen, denkt Staron: "Das Trinkverhalten hat sich geändert." Immer mehr Besucher wollten gar nicht mehr in die Kneipe oder in den Club auf der Reeperbahn gehen, sie nutzen die Amüsiermeile nur noch als Kulisse, zum Beispiel für ihre Junggesellenabschiede. Bier und Schnaps gibt's vom Kiosk. "Wir haben 42 Kioske im Stadtviertel", sagt Staron. Deren Betreiber könnten die neuen, höheren Mieten leichter bezahlen als ein Wirt, weil sie weniger strenge Auflagen und niedrigere Investitionen haben als eine Kneipe. "Die stellen einfach ein Regal rein und fertig."

Was aber tun? Am leichtesten retten lässt sich die bedrohte Kiezkultur natürlich, wenn jemand Geld in die Hand nimmt. Das zeigt der Spaziergang vorbei an der Kult-Kneipe "Zum Silbersack". Als die langjährige Wirtin vor einigen Jahren in hohem Alter starb, kauften Hamburger Immobilien-Kaufleute das Lokal. Den nahegelegenen kleinen Musikclub "Hasenschaukel" retteten die Besucher mit einer Crowdfunding-Kampagne. "Als die wieder eröffnet haben, haben sich auch die Kioske nebenan gefreut", sagt Staron und verdreht die Augen.

Es ist ein ewiger Reigen: Die Kneipen und Clubs locken Besucher in die Nebenstraßen, die kaufen aber lieber bei den Kiosken in Massen billig ein, die Kioskbetreiber wittern das große Geschäft, es kommen mehr und mehr Kioske - und machen schließlich den Clubs das Geschäft kaputt.

Doch so eine Lösung findet sich nicht immer, deswegen wurde der Stadtteil auf Initiative der IG St. Pauli - ein Zusammenschluss von Gewerbetreibenden - zum "Business Improvement District" ernannt. Die Idee: Die Grundeigentümer im Viertel finanzieren Maßnahmen wie zum Beispiel Starons Stelle. "Meine Hauptaufgabe ist jetzt: reden und zuhören", sagt sie. Wichtig ist ihr dabei, die Anwohner mit ins Boot zu holen, zum Beispiel über einen Lenkungsausschuss und über regelmäßige Diskussionsveranstaltungen, die sogenannten Reeperbahn-Runden.

Einfach ist das nicht, denn die Anwohner und Stadtteilinitiativen haben durchaus ihre Vorbehalte. Schließlich sind ihre Interessen oft andere als die von Gewerbe und Grundeigentümern. Dazu kommt: Julia Staron teilt sich die Stelle als Quartiersmanagerin mit Lars Schütze, dessen Familie einst die Esso-Häuser am Spielbudenplatz gehörten. Und die sind für die St. Paulianer und ihre Kiezkultur Trauma und Wendepunkt in einem.

Der Protest zeigt Wirkung

Die Hochhäuser standen zwischen den Tanzenden Türmen und dem Spielbudenplatz. Hübsch waren sie nicht, sondern baufällig und heruntergekommen. Sie beherbergten aber auf kleinstem Raum die für St. Pauli typische Mischung aus Sexshops, Kneipen, Clubkultur und billigen Wohnungen. 2014 wurden sie trotz massivem Protest aus dem Stadtteil abgerissen, ein Investor aus Bayern hatte das Areal bereits 2009 gekauft.

Die Bewohner - teilweise Menschen, die seit Jahrzehnten in St. Pauli lebten - mussten ausziehen, da halfen alle Demonstrationen nichts. Der Familie Schütze warfen viele St. Paulianer vor, sie habe das Gebäude verfallen lassen - und somit Schuld an der Situation. Heute klafft dort eine Baulücke.

Und doch haben die St. Paulianer mit ihrem Protest einiges erreicht. Denn ein deutschlandweit einzigartiges Beteiligungsverfahren soll gewährleisten, dass die Wünsche der Anwohner schon in der Planungsphase berücksichtigt werden. Stadtteilinitiativen beteiligen sich gemeinsam mit Bezirkspolitikern und dem Investor an einem Projektrat. Seit fast einem Jahr steht neben der Baustelle die "Planbude". In dem kleinen Container sitzen die Sozialarbeiterin Christina Rötig, die Kulturwissenschaftlerin Kim Wrigley und die Stadtplanerin Renée Tribble zwischen einem Haufen Zetteln, Modellen aus Knetgummi und Pappmachée, Zeichnungen und Fotos.

Den St. Pauli-Code knacken

"Wir hatten den Auftrag herauszufinden, wie St. Pauli eigentlich funktioniert", sagt Rötig. "Den St. Pauli-Code knacken" nennen sie das. Die St. Paulianer durften vier Monate lang im Container vorbeikommen, um dort mit Lego und Knetgummi, mit Stift und Papier, in gläsernen Werkstätten und im Gespräch mit Architekten selbst zu überlegen, wie sie sich das Areal vorstellen. An der Wand hängt ein abfotografiertes Panorama der Reeperbahn. Und wie ist er nun, der St. Pauli-Code, der zunächst das Areal zwischen "Tanzenden Türmen" und Spielbudenplatz, irgendwie aber auch den ganzen Kiez retten soll?

Erstens: kleinteilig muss es sein, erklärt Tribble. Kiezkneipe, Anwohnertreff, Kulturzentrum und Musikclub und günstige Wohnungen sollen nebeneinander Platz haben, ganz wie früher in den Esso-Häusern. Die Läden sollen keine großen, sterilen Ketten sein, sondern inhabergeführte Clubs, Kneipen und Cafés. Zweitens: Das Areal muss zur Straße hin offen und bunt sein. Die schicken Tanzenden Türme seien das genaue Gegenteil, sagt Stadtplanerin Tribble. "Die Fassade ist glatt, einheitlich und abweisend", sagt sie.

Drittens: Die Wohnungen, die in die neuen Gebäude kommen sollen, müssen günstig sein. Und nicht nur das: "Es muss dort Orte für die Leute aus dem Stadtteil geben, an denen man sich aufhalten kann, ohne etwas zu konsumieren", sagt Rötig. Ein weiterer schicker Coffeeshop bringe den St. Paulianern wenig, "die Leute brauchen auch Orte, wo sie Bier oder Filterkaffee für 1,50 Euro kriegen."

Kleinteilig, offen, günstig

Kleinteilig, offen, günstig: So in etwa sieht er aus, der St. Pauli-Code. Gerade haben Architekturbüros den St. Paulianern die ersten städtebaulichen Entwürfe vorgestellt, einen halben Tag hatten die Anwohner Zeit zu fragen und zu kritisieren. Anfang September wird eine Jury aus Architekten, Bezirksvertretern und Vertretern des Stadtteils über das Ergebnis des Wettbewerbs entscheiden. "Die Leute vertrauen der Planbude, aber wir müssen auch dafür sorgen, dass es nicht in die Hose geht", sagt Tribble. "Es besteht ja immer die Gefahr, dass sich ein Eigentümer hinstellt und sagt: Was wollt Ihr von mir, ich habe schließlich das Geld?"

Bis das neue Areal fertig ist, dauert es ohnehin noch eine ganze Weile. Solange teilt die Baulücke zwischen den Tanzenden Türmen und dem Spielbudenplatz die Reeperbahn in schick und Ballermann. Auf der einen Seite baut an diesem Samstagabend ein Türsteher mit tragbaren Gitterzäunen zwei Reihen vor den ausklappbaren Eingang in den Mojo Club. Der Wind zieht kalt um die Hochhäuser, einige lässig gekleidete Hamburger stehen dort und wischen auf ihren iPhones herum. Auf der einen Seite der Baustelle ziehen die beiden Junggesellenabschiede Richtung Davidwache, umrunden einige Touristengruppen. Hinter ihnen knipsen in der Davidstraße die Kioske die Beleuchtung an. Die Nacht kann beginnen.

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