Prozess im Mordfall Mirco:"Da müssen alle Warnlampen aufleuchten"

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Mircos mutmaßlicher Mörder hat die Tat gestanden. Doch viele Fragen bleiben: Was lässt sich aus dem Tatmuster ableiten? Wie kann ein solcher Täter zuvor so lange unauffällig bleiben? Eine Antwortsuche mit dem Kriminalpsychologen Rudolf Egg.

Lena Jakat

Fünf Monate lang fehlte jede Spur von Mirco, einem zehn Jahre alten Jungen aus Grefrath am Niederrhein. Erst als die Ermittler im Januar Olaf H. verhaften, ist klar: Mirco wurde schon kurz nach seinem Verschwinden sexuell missbraucht und getötet . Der Prozess gegen H. hat am Dienstag mit einem Geständnis begonnen. Doch viele Fragen bleiben. Eine Antwortsuche mit dem Kriminalpsychologen Rudolf Egg, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle e. V. in Wiesbaden, einer zentralen Forschungs- und Dokumentationseinrichtung des Bundes und der Länder .

sueddeutsche.de: Der Angeklagte verstrickt sich bei seinen Aussagen in Widersprüche. In einer Vernehmung gab er Stress im Beruf als Motiv für seine Tat an. Was ist davon zu halten?

Rudolf Egg: Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies das eigentliche Tatmotiv ist. Das sieht eher nach einer klassischen Schutzbehauptung aus oder nach dem Versuch, einfach irgendetwas zu sagen und sich selber als Opfer darzustellen. Jemand, der ein solch schreckliches Verbrechen begangen hat, ist allerdings selten gleich derjenige, der darüber vollständige Aufklärung geben könnte. Der Täter ist ja selbst am meisten verstrickt in das Geschehen und versucht natürlich zunächst, die Sache in einem für ihn günstigeren Licht erscheinen zu lassen.

sueddeutsche.de: Der mutmaßliche Täter hat angeblich bislang ein völlig unauffälliges Leben geführt. Ist das überhaupt möglich?

Egg: Es gibt eine Gruppe von Sexualstraftätern, bei denen vor der Tat äußerlich nicht festzustellen war, dass sie massive Gewaltphantasien in Bezug auf Kinder haben. Solche Täter zeigen das nicht, weil sie eben ein ganz normales, manchmal sogar biederes Leben führen. Sie spalten gewissermaßen diese gewaltsame Seite ihrer Person von dem nach außen gezeigten Verhalten ab. Dass also jemand 45 Jahre alt wird, um dann urplötzlich so gewalttätig zu werden, ist sehr unwahrscheinlich. Es dürfte vielmehr so sein, dass er zumindest solche Gedanken schon länger hatte.

sueddeutsche.de: Warum?

Egg: Jemand der so blitzartig handelt - ein Kind sieht, es überfallt, missbraucht, tötet: Das spricht für eine sehr hohe kriminelle Energie, die nicht auf einmal da ist, sondern eine Vorgeschichte haben muss. Vielleicht hat er vorher nur entsprechende Wünsche gehabt und noch nie ein Kind angefasst oder berührt, vielleicht aber doch. Bei diesem Tatmuster muss man das zumindest in Erwägung ziehen. Deswegen prüft die Polizei auch, ob der Angeklagte auch in anderen Fällen als Täter in Frage kommt.

sueddeutsche.de: Was lässt sich aus diesem Tatmuster ablesen?

Egg: Es gibt bestimmte Tatmerkmale, die, vor allem wenn sie in Kombination auftreten, alle Warnlampen aufleuchten lassen müssen: Wenn fremde Kinder zu Opfern werden, wenn dies überfallartig und äußerst brutal geschieht. Auch das Verhalten nach der Tat ist auffällig: Es gibt Sexualstraftäter, die an sich zweifeln, die weinen, die sich fragen, warum sie das getan haben. In diesem Fall spricht der Angeklagte dagegen mit scheinbar großer Gelassenheit über das Verbrechen. Er gesteht zwar die Tat, aber sie scheint ihn irgendwie nicht zu berühren. Das zeigt, welche emotionale Distanz er zu dem Ganzen aufgebaut hat.

sueddeutsche.de: Das Verbrechen an Mirco endete mit dem brutalen Tod des Jungen.

Egg: Nach den Informationen, die bislang an die Öffentlichkeit gelangt sind, sieht es so aus, als handle es sich um einen sogenannten Verdeckungsmord, das heißt, Mirco wurde getötet, um den vorherigen Missbrauch zu verschleiern. Bei einem sadistischen Sexualmörder dagegen wäre die Tötung von vornherein gewollt, sozusagen als Höhepunkt seiner Phantasien. Das scheint hier nicht der Fall gewesen zu sein - die Tat wird dadurch aber nicht weniger grausam.

sueddeutsche.de: Im Prozess sollen 40 Zeugen aussagen, die meisten kommen aus dem Umfeld des Täters. Was hat das zu bedeuten?

Egg: Das Gericht gibt sich offenbar große Mühe, herauszufinden, was die Hintergründe der Tat waren, was das eigentlich für ein Mensch ist. Das finde ich gut, denn es ist auch im Interesse der Familie des Opfers und der Öffentlichkeit. Alle fragen sich doch, wie jemand dazu kommt, einem Kind etwas so Schreckliches anzutun. Etwas, das man intellektuell begreift, kann man auch besser verarbeiten.

sueddeutsche.de: Die Öffentlichkeit hat auf Mircos Tod mit großem Entsetzen reagiert. Sie haben täglich beruflich mit solchen Fällen zu tun - reagiert man da anders?

Egg: Ein solches Verbrechen löst natürlich bei jedem Schrecken aus, besonders wenn ein Täter vorher so unauffällig gelebt hat. Auch bei mir. Doch es wäre falsch, aus diesem Fall zu schließen, dass alle, die ein Kind missbrauchen, ebenfalls hochgefährlich und potentielle Mörder sind. Das ist eine zwar weitverbreitete, aber zum Glück nicht richtige Annahme. Viele Sexualtäter gehen ganz anders, nicht gewaltsam, vor. Sie verführen zum Beispiel Kinder mit Geschenken und Aufmerksamkeiten und lassen sich nach einer Verurteilung durch die Strafe und therapeutische Maßnahmen positiv beeinflussen, so dass sie nach der Entlassung nicht mehr auffällig werden.

sueddeutsche.de: Was bedeutet das für die Prävention?

Egg: Es ist richtig und wichtig, Kinder darüber aufzuklären, dass es Menschen gibt, die sich zwar äußerlich sehr freundlich zeigen, aber Böses im Sinn haben. Kinder sollten also wissen, dass sie nicht jedem Menschen ihr Vertrauen schenken dürfen. Kinder sollten auch lernen, das sie nein sagen dürfen zu Dingen, die sie nicht wollen und dass es richtig ist, den Eltern mitzuteilen, wenn sich jemand zudringlich verhalten hat. Letztlich gibt es aber keinen absoluten Schutz. Dass Mirco, ein zehnjähriger Junge, alleine mit dem Fahrrad unterwegs war, ist ja ganz normal. Er hat alles richtig gemacht. Ich glaube - so schrecklich es klingen mag -, dass Mirco an jenem Tag einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war.

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