Prozess-Ende in Cottbus:Denn sie wissen nicht, was sie tun

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Sechs Jahre war Dennis alt, als er verhungerte - am Montag urteilt das Gericht über seine Eltern, die nicht zu begreifen scheinen, was sie angerichtet haben.

Marcus Jauer

Wenn man Angelika und Falk B. vor Gericht sitzen sieht, in den Minuten bevor die Verhandlung beginnt, wenn die Zuschauer die Plätze einnehmen, die Reporter die Notizbücher auspacken, der Kameramann für die Regionalnachrichten filmt und der Staatsanwalt in den Akten blättert, wie ihr Blick dann hilflos durch den Saal wandert, wie er sucht, aber nirgends haften bleibt, in diesen Minuten fragt man sich, ob sie wirklich verstanden haben, weshalb sie hier sitzen.

Am Montag fällt das Urteil gegen die Eltern von Dennis (Foto: Foto: AP)

Angelika und Falk B. haben ihr Kind verhungern lassen, Dennis. Er wurde nur sechs Jahre alt und starb Weihnachten 2001. Aber erst im Sommer 2004 wurde er gefunden. Er lag in der Kühltruhe, die in der Küche der Wohnung stand und die sie, weil sie kaputt war, als Tisch benutzt haben, sie und ihre sieben anderen Kinder.

Wenn sie dem Richter erzählen sollen, wie es dazu kam, antworten sie in kurzen Sätzen, zwischen denen viel Zeit vergeht, während sie versuchen, sie vom Blatt abzulesen. Sie wirken nicht wie Leute, die begreifen, dass sie etwas getan oder nicht getan haben, sondern wie Leute, denen etwas passiert ist.

Dennis blieb ein Außenseiter in der Familie

Angelika B. ist 44 Jahre alt, Falk B. sechs Jahre jünger. Eine kleine Frau mit müden Augen, ein kräftiger Mann mit tätowierten Händen. Sie sind in der DDR aufgewachsen, in Familien, die ihnen keine waren. Der Vater von Angelika B. war Gefängniswärter und sagte sich von seiner Tochter los, als sie von zu Hause abhaute, tanzte, trank, nicht mehr zur Arbeit erschien und wegen "asozialen Verhaltens" eingesperrt wurde. Der Vater von Falk B. war ein Trinker, der seine Kinder so lange schlug, bis sein Sohn groß genug war zurückzuschlagen.

Als Angelika und Falk B. sich 1990 kennen lernen, beziehen sie eine Wohnung in einem Cottbusser Plattenbauviertel und gründen dort ihre eigene Familie. Angelika B. hat zu dem Zeitpunkt schon vier Kinder geboren, das Erste, da war sie zwanzig, gab sie zur Adoption frei, drei Jungs bringt sie mit. Falk B. ist noch nicht Vater, aber in den nächsten Jahren wird er es sieben Mal. Nach dem ersten Kind scheint noch alles in Ordnung zu sein, das zweite geben sie zur Adoption frei, das dritte, Dennis, behalten sie wieder.

Als Angelika B. mit dem vierten schwanger ist, Falk B. muss wegen eines Verkehrsdelikts für einige Monate ins Gefängnis, betrinkt sie sich und springt aus dem Fenster. Sie hat Glück, sie überlebt, aber bricht sich beide Beine. Dennis muss ins Heim. Als er zwei Jahre später zu den Eltern zurückkehrt, erkennt er sie nicht mehr.

Der psychologische Gutachter, der für das Gericht mit Angelika B. gesprochen hat, sagt aus, man hätte Dennis nicht in die Familie zurücklassen dürfen. Er sei dort ein Außenseiter geblieben. Seine Mutter habe keine Beziehung zu ihm aufbauen können. Trotzdem wisse sie, dass es besser sei, ein Kind zur Adoption freizugeben, als es verhungern zu lassen. Sie sei voll schuldfähig.

Angelika B. sagt, Dennis sei "bockig" gewesen, er habe sich "stur gestellt" und "nicht so essen wollen" wie die anderen Kinder. Bei einem Arzt war sie mit ihm nicht, mit keinem ihrer Kinder. Sie habe Platzangst, sagt Angelika B., sie halte es in Wartezimmern nicht aus.

Falk B. sagt, seine Frau habe Dennis nur wenig zu Essen gegeben und ihn abends manchmal mit dem Gürtel des Bademantels ans Bett gefesselt, damit er nachts nicht herumlaufe. Mit drei Jahren habe der Junge noch nicht sprechen können, mit vier Jahren nicht laufen, seine Beine seien dünner gewesen als seine Knie, mit fünf Jahren habe er nur sitzen können, wenn man ihn an eine Wand anlehnt. So steht im Protokoll der ersten Vernehmungen von Falk B. Vor Gericht zieht er die Aussage zurück.

"Ich habe Sachen gesagt, ohne dass ich richtig überlegt habe", liest er von einem Zettel ab und schaut nach jedem Halbsatz zu seinem Anwalt auf. Auf dem Zettel steht, dass Falk B. einen Intelligenzquotienten von 60 hat, aber er kann das Wort nicht aussprechen.

Niemand verlangt ein Attest

In den Verhandlungspausen stehen Angelika und Falk B. im Hof der Cottbusser Landgerichts. Er raucht, sie schaut ihm zu. Sie wohnen noch heute zusammen in der Plattenbauwohnung, was darin geschehen ist, scheint zwischen ihnen nichts geändert zu haben. Ihre Kinder leben in einem Heim, sie holen sie nun wieder häufiger zu sich nach Hause. Es ist eben nur so, dass eins fehlt.

Am Tag, als Dennis starb, waren seine Geschwister auf dem Weihnachtsmarkt, er spielte im Wohnzimmer. Auf einmal fing er zu zittern an, Angelika B. nahm ihn in den Arm, brachte ihn ins Bett, ging, ihm einen Tee zu machen, und als sie aus der Küche zurück kam, atmete er schon nicht mehr. Sie schloss die Tür und am nächsten Morgen erzählte sie, Dennis sei krank, er habe Zucker, ein Hubschrauber habe ihn ins Krankenhaus nach Berlin gebracht. Das lag außerhalb der Welt, die Falk B. überblicken konnte.

"Da war es für mich gut", sagt er. Er hat nie versucht, seinen Sohn dort zu sehen, und nach ihm gefragt hat er nur noch, wenn er betrunken war. "Was ist mit Dennis", fragte er seine Frau.

Als der Junge 2001 eingeschult werden soll, melden ihn die Eltern nicht an. 2002 sagen sie, er sei krank, 2003 sagen sie das immer noch. So wird Dennis auch im Klassenbuch der Schule geführt, als krank. Niemand verlangt ein Attest.

Der Schulamtsleiter sagt, man habe kein Bußgeld verhängt, da die Familie bereits von Sozialhilfe lebte. Die Mitarbeiterin des Jugendamtes sagt, sie habe keinen Hinweis erhalten, dass etwas nicht stimmt, dabei findet sich in den Akten die Meldung einer Mitarbeiterin der Wohnungsbaugesellschaft, die Schreie gehört hatte und den Satz: "Halt die Schnauze, du Miststück." Die Mitarbeiterin des Sozialamtes sagt, sie sei sechs, sieben Mal in der Wohnung gewesen, immer, wenn die Familie keine Lebensmittel mehr hatte, habe sie sich die Küchenschränke zeigen lassen. In die Kühltruhe habe sie nicht geschaut.

"Dennis ist tot"

Im Prozess wird die Truhe als "Augenscheinsobjekt" in den Saal gebracht. Sie ist nicht groß, die Seiten sind mit Aufklebern verziert, der Deckel schließt dicht. Der Staatsanwalt zieht Gummihandschuhe über und öffnet ihn nur kurz. Der Geruch ist schwer, er braucht eine Weile, bis er zu den Zuschauern gelangt, aber als er da ist, stehen sie auf und reißen die Fenster weit auf.

Als Falk B. im Juni 2004 auf dem Sozialamt etwas von dem Hubschrauber er-zählt, der Dennis ausgeflogen habe, dem Amt darüber jedoch keine Rechnung vorliegt, fährt die Polizei zur Wohnung. Die Wohnung ist dreckig, es stinkt, vor dem Kinderzimmer hängt eine Kette, auf dem Wohnzimmertisch stehen Bierflaschen, in der Kühltruhe liegt die Leiche eines Kindes. Sie wiegt nur 3,8 Kilogramm und sieht aus "wie ein Vögelchen", sagt der Polizist, der sie findet. Er ruft seine Frau an, zum ersten Mal während eines Einsatzes und sagt: "Du, jetzt habe ich psychisch einen Treffer bekommen."

Angelika B. sitzt im Wohnzimmer, die Polizisten haben den Eindruck, etwas wolle aus ihr heraus, aber sie wisse nicht, wie sie es erzählen soll. Dann sagt sie es. "Dennis ist tot." Sie habe ihn in der Kühltruhe versteckt. Ihr Mann wisse nichts davon. Er müsse sich jetzt um die Kinder kümmern.

Am Ende des Prozesses sagt der Gutachter, er schließe aus, dass Dennis an einer Krankheit gestorben sei, er sei verhungert, der Körper habe sich selbst verzehrt. Der Staatsanwalt fordert daraufhin eine Verurteilung wegen Mordes, nicht mehr nur wegen Totschlags. Angelika und Falk B. hören ihm zu, aber es ist nicht sicher, ob sie ihn verstehen. Ihr Blick geht im Saal umher, so wie wohl auch heute, wenn der Richter das Urteil spricht.

© SZ vom 20.2.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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