Polen:Der lange Marsch zur Heiligkeit

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Seit dem Tod Johannes Pauls II. wachsen in Polen die Pilgerströme. Sechs Millionen Katholiken gehen auf Wallfahrt, um die Muttergottes zu verehren - viele haben ganz pragmatische Motive.

Thomas Urban

"Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder!" Aus 200 Kehlen schallt der Refrain des Rosenkranzes, gesungen in einem spannungsgeladenen, berückenden Melodiebogen. Die Sänger sind eine kunterbunt zusammengewürfelte Gruppe Wallfahrer auf dem Weg zum Hellen Berg von Tschenstochau zur Schwarzen Madonna, der berühmten Muttergottes-Ikone mit dem rauchgeschwärzten Antlitz. Aus einem Vorort von Warschau marschieren sie zwölf Tage, die Strecke ist insgesamt 250 Kilometer lang. Sie führt über kleine, schlaglochübersäte Kreisstraßen, über malerische Feldwege und immer wieder durch tiefen Wald, weit ab von den viel befahrenen Fernstraßen.

"Jetzt und in der Stunde unseres Todes", schließt der Refrain mit nach oben kletternder Tonleiter, dem Auftakt zur nächsten gleich lautenden Strophe. Es ist der schmerzensreiche Rosenkranz über die Passion des Herrn, Geißelung, Dornenkrone, Kreuzigung. Es sind zehn mal zehn Strophen, 100 Mal ertönt der Refrain, und die Gesichter vieler Wallfahrer strahlen - es spiegelt sich in ihnen die Freude über den gemeinsamen, kraftvollen Gesang. Sie sind nach ein paar Tagen des Fußmarsches, nach den ersten Blasen und Rückenleiden, zu denen ja der schmerzensreiche Rosenkranz passt, wie immer wieder gescherzt wird, zu einer Gemeinschaft geworden.

Mit dabei sind die Hausfrau Teresa, 52 Jahre alt, drei Kinder, fünf Enkel; sie geht schon das achtzehnte Mal mit. Der Landarbeiter Jurek, verwittertes Gesicht, das ihn viel älter aussehen lässt als 36; es ist seine zweite Wallfahrt in diesem Jahr, nach der Reise nach Lourdes. Die Geschäftsfrau Halina mit ihrer sechzehnjährigen Tochter Ewa. Beide sind das erste Mal dabei wie auch die Studenten Joanna und Karol, sie studiert Biologie, er Jura. Sie gehören zu einer großen Gruppe von Studenten, von denen wohl mehr als die Hälfte schon einmal "mitgegangen" ist, wie man das hier nennt.

Den ganzen Sommer über sieht man auf den Landstraßen Polens Wallfahrten. Sie führen nicht nur nach Tschenstochau, sondern auch zu zwei Dutzend weiteren Orten, an denen die Muttergottes besonders verehrt wir. Vornweg geht immer ein Kreuzträger mit Allwetterweste in Schutzfarben. Meist am Schluss hält sich ein Priester. Er nimmt Abstand von den Sängern und Betern, weil er beim Marschieren die Beichte abnimmt, und jeder der Wallfahrer ist eingeladen, während der zwölf langen Tage die Gelegenheit zu einem ausführlichen Beichtgespräch zu nutzen.

Eine Wallfahrt ist ein eingespieltes Unternehmen, die Routen im Detail vorgeplant und erprobt. Am großen Pilgerzug aus der Hauptstadt nach Tschenstochau nehmen mehr als zehntausend Menschen teil, der Prozession folgt ein Tross von Fahrzeugen, darunter eine Krankenambulanz, Tankwagen mit Wasser und ein Imbisswagen, der am Tag bis zu 5000 HotDogs verkauft. Der Pilgerzug aus dem Vorort von Warschau begnügt sich mit einem Lastwagen mittlerer Größe. Er befördert jeden Tag gleich nach dem Morgengebet Schlafsäcke, Schaumstoffmatten, Rucksäcke zum jeweiligen Etappenziel. Die Pilger übernachten in Scheunen, Turnhallen, in selbstlos zur Verfügung gestellten Privatquartieren. Gleich nach dem Abendgebet legen sie sich zur Ruhe, sie sind auch zu müde für weitere Unternehmungen. Morgens noch vor Sonnenaufgang klingelt der Wecker. Die Sonne wird mit Gebet und Gesang begrüßt. Ein "Vaterunser" und ein "Gegrüßet seist du, Maria", der Kehrvers wieder aus 200 Kehlen gesungen.

Es sind vor allem junge Leute, die sich auf die Pilgerfahrt begeben haben. Gymnasiasten und Studenten machen zwei Drittel aus. "Pilgern ist in", sagt die Biologiestudentin Joanna. Ihr Freund Karol meint, es sei eine Art Prüfung vor dem richtigen Ernst des Lebens. Er möchte vor der Schwarzen Madonna in Tschenstochau niederknien, um für die gute Note im Vorexamen in Jura zu danken. Dabei sei er eigentlich skeptisch, der gesunde Menschenverstand verbiete es, an Wunder zu glauben. Doch er geht Joanna zuliebe mit, und diese möchte um Kraft für das bevorstehende Examen beten. Sollte sie es gut bestehen, so wird sie im nächsten Jahr wieder dabei sein.

Die Geschäftsfrau Halina hat ein ernsteres Anliegen, wie sie aber erst nach langen Tagen des Schweigens vorsichtig anklingen lässt: Ihr Mann ist Alkoholiker. "Ich bete, dass er endlich von der Flasche lässt", sagt sie schließlich. Ihre sechzehnjährige Tochter nickt. "Wir haben die Hölle zu Hause", sagt sie leise, Tränen steigen ihr in die Augen.

Pater Zenon, der selbst am Abend zur Gitarre greift und nicht nur fromme, sondern auch lustige Lieder zum Besten gibt, meint: "Die meisten Wallfahrer sind ganz normale Leute." Sie seien keine Mystiker, keine Fundamentalisten, sie fühlten sich nicht wie Heilige. Während der zwölf Tage auf dem Weg nach Tschenstochau gehen sie ganz im Singen und Meditieren auf, wobei aber auch gelacht werden darf. "Das hat unser Papst Johannes Paul II. schließlich in die Kirche gebracht, den Humor", sagt Pater Zenon und lacht.

"Wir sind die Generation Dschi-Pi-Two", sagt Joanna in Anspielung auf das Kürzel JPII für den verstorbenen Papst. Das bedeute, wie Karol darlegt, Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Religionen und Nationen. Die jungen Leute tragen selbstverständlich Kettchen mit einem Kreuz und T-Shirts, auf denen die Schwarze Madonna zu sehen ist oder schlicht die Buchstaben AMEN oder JPII stehen. Doch das Bekenntnis zu ihrem, dem polnischen Papst bedeutet nicht, dass die jungen Leute auch ganz und gar nach seiner strengen Morallehre leben, wie eine von der Kirche selbst in Auftrag gegebene soziologische Untersuchung belegt. Längst nicht jeder der Wallfahrer besucht jeden Sonntag die Messe. Und bei Empfängnisverhütung und vorehelichem Geschlechtsverkehr halten es die meisten jungen Polen nicht anders als ihre Altersgenossen im Westen.

Die Soziologen sind sich einig darin, dass auch die Welle der Frömmigkeit, die das Land in den Tagen vor und nach dem Tod Johannes Pauls II. Anfang April erfasst hatte, letztlich wenig am Lebensstil der Mehrheit ändern werde. Damals haben wohl Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende seiner Landsleute gelobt, in Zukunft ein gottgefälligeres Leben als bisher zu führen. Auf jeden Fall hat die Zahl der Pilger kräftig zugenommen. Etwa sechs Millionen sind es in diesem Jahr, die an einer Wallfahrt teilnehmen, Busfahrten direkt zum Mariensanktuarium mitgerechnet.

Doch bei weitem nicht alle haben die Verehrung Gottes so in den Mittelpunkt ihres Lebens gestellt, wie die Großmutter Teresa, die besonders laut und inbrünstig singt und ausdauernder zu sein scheint als manche der Zwanzigjährigen. Sie bittet den Herrn einfach, dass sie und ihre Familie gesund bleiben. "Der Herr hält seine Hand über uns", sagt sie. In den vergangenen Jahren ist niemand aus ihrer Familie ernsthaft krank gewesen. Und der Arbeiter Jurek mit dem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht, der sich immer wieder anbietet, das Kreuz oder den Rucksack mit dem schweren Lautsprecher zu tragen, möchte einfach alle großen Wallfahrten in Europa mitmachen. Noch im Herbst tritt er die Reise nach Altötting an, allerdings mit dem Bus. "Von dort kommt schließlich unser neuer Papst", sagt er. "Aber an erster Stelle bleibt immer Tschenstochau", sagt er.

Sein Lieblingslied ist das von "Maria, der Königin Polens". Auch Teresa singt es besonders gern. Es handelt davon, dass die Muttergottes Polen unter ihren besonderen Schutz genommen habe. Johannes Paul II. hatte deshalb ein "M" in seinem Wappen. Und die Solidarnosc-Legende Lech Walesa trägt ein kleines Abbild der Schwarzen Madonna an seinem Rockaufschlag. Deshalb gehören zu jeder Wallfahrt auch weiß-rote polnische Nationalfahnen. "Ein Pole ist Katholik", sagt Teresa. Sie will nicht die Argumente gelten lassen, die ihr die Studenten Joanna und Karol entgegenhalten. Der Papst habe schließlich die Vertreter der anderen Konfessionen als "Brüder in Christo" bezeichnet. Als Pater Zenon dann in einer Predigt sagt, die Wallfahrer seien wie das Volk Israel bei seinem langen Marsch aus Ägypten ins Gelobte Land, will dieser Vergleich auch nicht jedem einleuchten.

Die Besatzer vertrieben

Tschenstochau ist nämlich unvergleichbar, der Mythos rührt aus dem 17. Jahrhundert, als das schwedische Heer in Polen einfiel und das ganze Land besetzte - bis auf den Hellen Berg mit dem Paulinerkloster, in dem die als wundertätig verehrte Ikone mit der Schwarze Madonna hing. Die Schweden konnten den befestigten Klosterberg nicht einnehmen, die zersprengte polnische Armee schöpfte wieder Mut und vertrieb die Invasoren. Tschenstochau ist also das Ursymbol für den Kampf gegen Fremdherrschaft - unter dem Schutz Mariens.

Für Teresa und Jurek ist die Wallfahrt der Höhepunkt des Jahres. "Ich bin so Gott dem Herrn ganz nahe", sagt Jurek. Das Wichtigste seien die Gesänge. Die Melodie des Kehrverses "Heilige Maria, Mutter Gottes", hat in der Tat etwas Psychedelisches, wie die Psychologen sagen würden. Er trägt die Menschen fort, manche singen sich geradezu in Trance, auch beim Marschieren. Und wenn Zehntausende Pilger, die aus allen Himmelsrichtungen in Tschenstochau eingetroffen sind, gleichzeitig am Fuß des Klosterberges singen, dazu polnische Fahnen wehen, dann erfasst nicht nur die Frömmsten, sondern auch den rationalen Jurastudenten Karol ein "heilige Ergriffenheit".

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