Panorama:Wo die wilden Tiere wohnen

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Wildschweine, Waschbären und Papageien fühlen sich wohl zwischen Fastfood-Abfällen und Häuserschluchten. Hier ist es wärmer, heller und - mangels natürlicher Feinde - manchmal sogar sicherer als in freier Natur. Dabei beweisen sie eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit.

Von Wiebke Rögener

Füchse wohnen im Wald, Kojoten in der Prärie und Möwen segeln malerisch über die Küstenmeere. So jedenfalls sieht es unser Bild von der Natur vor. Allein, die Realität richtet sich nicht immer nach diesen Vorstellungen.

Vulpes vulpes, der Fuchs (Foto: Foto: AP)

Viele Wildtiere leben längst nicht mehr nur da, wo sie nach landläufiger Meinung hingehören, sondern auch dort, wo es kein Bilderbuch vorsieht: mitten in der City.

Wildschweine in Berlin brachten es bereits auf etliche Fernsehauftritte. Biber hausen an der Isar mitten in München, und in Kassel und Umgebung plündern aus den USA eingeschleppte Waschbären seit Jahren die Mülltonnen.

Sogar einst sehr scheue Wildtiere lockt es in die Städte. Engländer, die die Fuchsjagd lieben, könnten ihrem umstrittenen Hobby längst mitten in London nachgehen. Rund 10000 Rotfüchse sollen die britische Hauptstadt bevölkern. Auch in deutschen Großstädten werden Füchse immer häufiger gesichtet. Menschen beim Stadtbummel beeindrucken die Wildtiere oft gar nicht mehr.

Lieber Fastfood als Muscheln

Auch bei Beutezügen in ihrem neuen Revier sind die Zugezogenen alles andere als wählerisch: Abfallhalden dienen Möwen fern aller Küsten als Nahrungsgrundlage. Die Reste von Fast-Food-Mahlzeiten aus weggeworfenen Papiertüten zu zerren, ist eben einfacher, als Muscheln oder Krebse zu knacken.

In Fuchsbauten finden sich neben Hamburger-Verpackungen auch zahlreiche Babywindeln. Und natürlich verschmähen Füchse auch die Näpfe nicht, die Hunde- und Katzenhalter ihren Haustieren bereitstellen. In der neuen Welt sind es vor allem Kojoten, die etwa in Los Angeles oder Montreal den Hunden das Futter streitig machen - und sich zuweilen auch mit ihnen paaren. Das Ergebnis sind so genannte Coy Dogs, Kinder der Begegnung von Wildnis und Zivilisation.

Das überreiche Nahrungsangebot in den Städten gilt als einer der wichtigsten Gründe dafür, warum es Tiere zu den Menschen zieht. Gärten und Mülltonnen sind ein übersichtliches und leicht zu durchstreifendes Jagdrevier.

Gut genährte U-Bahn-Mücken

Zudem ist die Natur draußen vor der Stadt ohnehin meist längst zur einförmigenKulturlandschaft geworden, wo riesige Maisfelder an die Stelle einer reich gegliederten Knicklandschaft getreten sind. Mähdrescher und Pflanzenschutzmittel auf Feldern und Wiesen tun ein übriges, um Tiere zu verjagen und in den Städten nach ökologische Nischen suchen zu lassen.

Die finden sich dann besonders in Grünflächen und auf Friedhöfen. In Berlin etwa hat die Stiftung Naturschutz gerade eine Broschüre herausgebracht, die den "Lebensraum Friedhof" beschreibt (www.stiftung-naturschutz.de).

Doch auch Straßenpflaster und Betonbauten sind für manche Tiere offenbar ein attraktiver Lebensraum. Schließlich ist es in den Häuserschluchten wärmer, heller und - mangels natürlicher Feinde - manchmal sogar sicherer als in freier Natur.

Selbst mit den unwirtlichsten Orten der Städte können sich manche Tierarten arrangieren. So plagt die Nutzer der Londoner U-Bahn eine spezielle Stechmückenart mit dem Beinamen "molestus", was so viel wie ärgerlich oder lästig heißt.

Die stechwütigen Biester sind im Tunnelsystem heimisch. Äußerlich gleichen sie einer oberirdisch lebenden Mückenart, die vor allem Vögel sticht. Doch in der Lebensweise gibt es Unterschiede. So bilden die Weibchen der Tunnelbewohner keine Schwärme, und anders als ihre Verwandten über der Erde können sie auch Eier legen, ohne vorher eine Blutmahlzeit zu genießen.

Dafür stürzen sie sich aber mit Begeisterung auf jeden Fahrgast, den sie erwischen. Auch halten die Untergrund-Tiere in den frostfreien Tunneln keine Winterruhe, wie sie bei mittel- und nordeuropäischen Mücken üblich ist.

Kirchenasyl für den Goldlaufkäfer

Lange Zeit nahmen Insektenforscher an, dass es Londoner Mücken waren, die das U-Bahn-System kolonisierten und sich dann an den beengten aber warmen und besonders in der Hauptverkehrszeit nahrhaften Lebensraum anpassten. Doch genetische Analysen ergaben nun: Die Tunnelmücken sind enger mit Mücken aus Südeuropa, dem Nahen Osten und Nordafrika verwandt als mit den Stechtieren im Himmel über London (1).

Offenbar kommt es nicht zu Kreuzungen zwischen den beiden eng benachbarten Gruppen. In den USA dagegen gibt es häufig Mischformen zwischen Mücken, die Vögel stechen, und solchen, die Menschenblut bevorzugen. Die weniger wählerischen Mischlinge übertragen mit dem Stich das in der Vogelwelt verbreitete West-Nil-Virus auf den Menschen.

Weniger lästig sind die Insekten, die im Rheinland Kirchenasyl gefunden haben. Der Garten des erzbischöflichen Priesterseminars in Köln ist nicht nur für Geistliche ein Refugium. Auf dem Grundstück mitten in der Innenstadt finden sich auch die bis zu drei Zentimeter langen Goldlaufkäfer.

Anderswo in der Stadt gibt es sie nicht, sodass sie - da flugunfähig - den weiten Weg vom Stadtrand entweder zu Fuß zurückgelegt haben müssen oder aber schon seit vielen Käfergenerationen in dem Garten ansässig sind, folgern Wissenschaftler der Universität Köln. Womöglich schon seit Mitte des 18.Jahrhunderts, denn so lange schon wird das 20000 Quadratmeter große Gelände ununterbrochen als Gartenanlage genutzt.

Die Reiswanze reist nach London

Während die Goldlaufkäfer nur die letzten einer ehemals in diesem Raum verbreiteten Art sind, beobachten Forscher, dass auch Insekten aus wärmeren Klimazonen nach Mittel- und Nordeuropa einwandern. In der Wahner Heide etwa, einem militärischen Sperrgebiet nahe Köln, siedelt spätestens seit 1999 der Nashornkäfer.

Das mit vier Zentimeter Länge zu den Riesenkäfern zählende Insekt stammt aus dem Mittelmeerraum. Der Käfer mit dem imposanten Horn wurde als typischer Kulturfolger schon im 19.Jahrhundert immer wieder einmal in Deutschland entdeckt. In Eichenlohehaufen der Gerbereien fand er die nötige Wärme, heute bevorzugen seine Larven Komposthaufen.

Ein Neuankömmling aus dem Süden ist dagegen die Grüne Reiswanze. Diese Wanze, die in den Mittelmeerländern als Gemüseschädling verhasst ist, gerät zwar häufig mit Gemüseimporten in den Norden, konnte aber im rauen Klima bisher nicht länger überleben.

Im Frühjahr dieses Jahres jedoch fanden britische Forscher mehrere florierende Kolonien der Reiswanze mitten in London. Britische Wissenschaftler sehen darin ein Zeichen für den fortschreitenden Klimawandel: "Ich bin immer zurückhaltend damit, alles der globalen Erwärmung zuzuschreiben, aber sie ist die einzige Erklärung", sagte Max Barclay vom Natural History Museum der BBC.

Anpassungsfähige Nachtigall

Mitunter machen Neuankömmlinge alteingesessenen Stadtbewohnern auch Konkurrenz. Denn während beispielsweise in Stuttgarter Parks seit Mitte der achtziger Jahre sogar eine südamerikanische Papageienart hiesigen Wintertemperaturen trotzt, werden so vertraute Stadtbewohner wie der Sperling immer rarer.

Untersuchungen des Naturschutzbundes NABU zeigten einen Rückgang des einst so häufigen Vogels um etwa 75 Prozent in den letzten 30 Jahren.

Manchmal aber passen sich gerade Vögel auf angenehme Weise dem Stadtleben an. So verschaffen sich Nachtigallen mehr Gehör, indem sie je nach Lärmpegel lauter oder leiser singen, wie der Verhaltenforscher Henrik Brumm von der Freien Universität Berlin feststellte (2).

Er hat gemessen, wie lautstark Nachtigall-Männchen in der Hauptstadt den Tag begrüßen und stellte fest: An befahrenen Straßen singen die Vögel bis zu fünfmal lauter als in ruhigeren Regionen. Nur so haben sie eine Chance, trotz des Verkehrslärms bei den Weibchen Gehör zu finden. Wenn es am Wochenende ruhiger wird, mäßigt sich auch der Nachtigallen-Bräutigam - und wirbt wieder leiser.

(1) Science, Bd.303, S.1535, 2004 (2)Journal of Animal Ecology, Bd.73, S.434, 2004

© SZ vom 11.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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