Opferschutz:"Straftäter erfahren mehr Verständnis als Opfer"

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In ihrem Buch "Lebenslänglich" kritisiert Birgit von Derschau die Zustände im deutschen Opferschutz. sueddeutsche.de traf die Autorin zum Interview.

S. Sartor, Berlin

Mit der Anzeige gegen ihren Ex-Freund fand das Martyrium von Yvonne kein Ende. Die junge Frau wurde entführt und vergewaltigt - doch bei der Polizei wurde sie nicht ernst genommen. Die Beweisaufnahme glich einem schlechten Scherz: Keine Fotos der Blutergüsse und blauen Flecken, keine ärztliche Untersuchung zur Beweissicherung. Monate später bei der Gerichtsverhandlung wurde der Täter wegen mangelnder Beweise und Zweifel an dessen Schuld freigesprochen.

Birgit von Derschau: "Empörend, was Betroffene während Gerichtsverhandlungen erleben müssen." (Foto: Foto: oh)

Fälle wie der von Yvonne sind in Deutschland keine Seltenheit. Viele Opfer bleiben sich selbst überlassen, werden nicht mit dem nötigen Ernst und Respekt behandelt. Yvonnes Schicksal und weitere erschütternde Geschichten hat Birgit von Derschau in ihrem neuen Buch "Lebenslänglich - Vergessene Opfer und die Arbeit des Weißen Rings" festgehalten. Die Autorin will damit auf die unhaltbaren Zustände im deutschen Opferschutz aufmerksam machen.

sueddeutsche.de: Frau von Derschau, Sie moderieren die Sendung "Kripo live". Hat Sie Ihre Arbeit auf die Idee gebracht, ein Buch über Opfer von Gewaltverbrechen zu schreiben?

von Derschau: Für die wöchentliche Sendung im MDR-Fernsehen befasse ich mich jedes Jahr mit Hunderten Kriminalfällen. Dabei interessieren mich auch die Folgen für die Opfer und ihre Familien. Was ich hierbei erlebe und erfahre, erschüttert mich oft sehr und ich wollte es anderen Menschen mitteilen. So entstand das Buch.

sueddeutsche.de: Sie sprechen in Ihrem Buch von "vergessenen Opfern". Warum muss die Öffentlichkeit aufgerüttelt werden?

von Derschau: Noch immer erfahren Straftäter mehr Verständnis und Zuwendung als ihre Opfer, ihnen werden ein Anwalt auf Staatskosten, Psychotherapie und Hilfe bei der Resozialisierung gewährt. Das Opfer, häufig schwerverletzt und traumatisiert, steht zunächst alleine da und muss sich um alles selbst kümmern.

sueddeutsche.de Beim Lesen ist eine grundsätzliche Kritik an der deutschen Strafjustiz zu erkennen. Was muss sich Ihrer Meinung nach ändern, um einen besseren Opferschutz zu gewährleisten?

von Derschau: Es gibt einen ganzen Katalog von Forderungen, die der Weiße Ring vertritt. Mittlerweile konnte die Organisation erreichen, dass den Opfern von Sexualstraftaten und versuchten Tötungsdelikten sowie den Hinterbliebenen bei vollendeten Tötungsdelikten ein sogenannter Opferanwalt zur Seite gestellt wird. Doch es bleibt unverständlich, warum ein Opfer schwerster Misshandlungen oder einer Entführung darauf keinen Anspruch hat. Mitunter ist es empörend, was Betroffene während der Gerichtsverhandlung erleben müssen.

sueddeutsche.de: Welchen Stellenwert messen Sie der Arbeit des Weißen Rings beim Thema Opferschutz zu? Füllt er Lücken, die der Staat leer gelassen hat?

von Derschau: Genauso ist es. Der Weiße Ring hat bisher schon viele Gesetze mit auf den Weg gebracht, die es sonst nicht gäbe. Außerdem leistet der Verein vielerlei praktische Hilfe für die Opfer von Kriminalität. Das Wichtigste ist menschlicher Beistand. Hinzu kommen die Unterstützung beim Umgang mit Behörden, juristische Beratung und finanzielle Hilfe. Das Hilfsangebot reicht bis hin zu Ferienaufenthalten für Opfer und ihre Familien. Als ein Beispiel möchte ich den aktuellen Leipziger Fall der ermordeten achtjährigen Michelle erwähnen. Die Familie musste ihre Wohnung verlassen. Der Vater kann seine Arbeit als Taxifahrer momentan nicht ausüben, so dass dieser Verdienst wegfällt. Der Weiße Ring steht der Familie jetzt in vielerlei Hinsicht bei. Da der Verein ein bundesweites Netzwerk aufgebaut hat, kann die Familie, egal wo sie künftig leben wird, die Betreuung in Anspruch nehmen.

sueddeutsche.de: Sie engagieren sich selbst seit Jahren im Weißen Ring. Möchte Sie mit Ihrem Buch nun die Werbetrommel rühren?

von Derschau: Was mich zu dem Thema bewegt, möchte ich mitteilen. Natürlich soll das Buch auch um Unterstützung für den Weißen Ring werben und die engagierte Arbeit der vielen ehrenamtlichen Mitarbeiter aufzeigen. Und ein Euro pro verkauftes Exemplar kommt der Organisation direkt zugute.

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