Neurologische Forschung:Wieviel Hirn muss sein?

Lesezeit: 2 min

Masse ist nicht alles - auch mit einem kleinen Gehirn sind erstaunliche Leistungen möglich.

Werner Bartens

Einstein wird das Bonmot zugeschrieben, wonach die meisten Menschen nur fünf bis sechs Prozent ihrer Gehirnkapazität nutzen. Die Behauptung ist zwar populär - aber falsch.

Der ungewöhnliche Fall eines Mannes zeigt: Es geht auch mit wenig Gehirn. (Foto: Foto: Lancet)

Denn auch wenn es Hirnareale gibt, deren Funktion noch unerforscht ist, heißt das nicht, dass sie nicht benötigt werden. Den Luxus, Teile des Gehirns kaum zu benutzen, kann sich ein 44-jähriger Mann aus Südfrankreich jedenfalls nicht leisten.

Er verfügt nur über etwa zehn Prozent der üblichen Hirnmasse, führt aber ein relativ normales Leben. Neurologen der Universität Marseille beschreiben den erstaunlichen Fall im Fachblatt Lancet, das an diesem Freitag erscheint.

Der Mann ging zum Arzt, weil er eine Schwäche im linken Bein spürte. Die Mediziner ließen Kernspin- und Computertomographieschnitte von seinem Schädel anfertigen und fanden zu großen Teilen - nichts.

Wenig Hirnmasse

In der Mitte des Kopfes sahen sie eine große, schwarze Fläche. Dabei handelt es sich um die enorm erweiterten Hirnkammern, in denen sich Nervenwasser befindet. Normalerweise sind die Kammern fingerdick.

Die Reste des Gehirns kleben wie eine wellige Tapete am Schädelknochen. Als Baby drohte dem Mann ein Wasserkopf. Für das überschüssige Nervenwasser wurde ein Abfluss geschaffen. Seitdem hatte der Patient nur noch als Jugendlicher gelegentlich Beschwerden.

"Es ist das erste Mal, dass wir so stark erweiterte Hirnkammern und so wenig Hirnmasse sehen", sagt Lionel Feuillet, der behandelnde Neurologe in Marseille. Zur Überraschung der Ärzte führt der Patient ein unauffälliges Leben.

Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und arbeitet als Beamter in der Steuerbehörde. Sein IQ liegt bei 75, der verbale IQ sogar bei 84. Das ist zwar ein niedriger Wert, doch eine enorme Leistung angesichts der beschränkten Zahl an Nervenzellen.

Leistungsstarke Nervenzellen

"Das ist extrem, aber es gibt immer wieder Patienten mit erstaunlich wenig Gehirn", sagt Florian Heinen, Experte für Gehirnentwicklung am Haunerschen Kinderspital der Universität München. "Die wenigen Nervenzellen leisten dann offenbar genauso viel, wie es Millionen mehr Zellen bei anderen Menschen tun."

Nicht allein Größe und Struktur des Gehirns beeinflussen die kognitive Leistung. "Auch wenn das Gehirn anders aussieht als gewohnt, kann es funktionieren", sagt Heinen. "Umgekehrt kann das Gehirn normal aussehen und nur ein Detail gestört sein - und schon geht nichts mehr."

Masse ist nicht alles

Dass Masse nicht alles ist, wissen Mediziner. Das männliche Gehirn ist etwa 15 Prozent größer und schwerer als das weibliche, ohne deshalb leistungsfähiger zu sein. Es kommt darauf an, wie dicht die Nerven verpackt sind und wie die 100 Milliarden Nervenzellen in einem normalen Gehirn miteinander verbunden sind.

Was Auslastung und Effizienz seines Gehirns angeht, scheint der französische Beamte bisher unerreicht zu sein. "Wir wissen nicht, wie wenig Hirn zum Überleben nötig ist", sagt Neurologe Feuillet. "Aber auch ein sehr dünnes Gehirn ermöglicht offenbar einen normalen Alltag."

© SZ vom 20.07.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: