Namensvetter:Thomas Mann fährt Gabelstapler

Lesezeit: 7 min

Sie heißen Helmut Kohl, Romy Schneider, Karl Marx oder Thomas Mann: Nein, es ist nicht leicht, einen berühmten Namensvetter zu haben.

David Böcking

Mit zwölf hat Karl Marx das Kapital gelesen. Alle drei Bände. Er habe sie verstanden, sagt er. Schließlich hatte er sich zur Vorbereitung mit Hegels Dialektik befasst. Karl Marx kichert, fährt sich durchs weiße Haar, mit einer Hand, an der noch ein Rest blauer Farbe klebt. Man sitzt im Garten einer Kölner Trattoria, der Anlass ist, natürlich, Marx' Name.

Helmut Kohl, Romy Schneider, Thomas Mann und Karl Marx im Original (Foto: Grafik: sueddeutsche.de)

Ein Name, von dem er am Telefon gesagt hatte, er sei einfach nur albern. Jetzt klingt es anders. Es war sein Vater, der ihn vor 77 Jahren so nannte. Ein Polsterer und Dekorateur, der, wenn er krank war, Bilder von Carl Spitzweg kopierte. "Sehr weit links" war er, mehr möchte Karl Marx dazu nicht sagen. Man darf es sich denken.

Die Familie lebte in Longerich am Rande von Köln, wo Marx seine ersten Jahre zwischen riesigen Kornfeldern verbrachte. Eine Arbeitersiedlung. Als Kleinkind sieht er, wie die Gestapo einen ganzen Block umstellt, alle Männer werden abgeführt. Keine gute Zeit, um Karl Marx zu heißen. Bei der Einschulung fragt der Rektor in SA-Uniform, ob man den Jungen nicht umtaufen wolle - vergeblich. "Da konnte man meinem Alten nicht mit kommen."

Karl Marx bleibt Karl Marx und er kommt gut durch die nächsten Jahre. Er darf frühzeitig aufs Gymnasium, ist deshalb zu jung, als seine Mitschüler als Flakhelfer eingezogen werden. In der Straßenbahnlinie 16 hält ihn einmal die Hitlerjugend an - er soll beim Bau des Westwalls helfen. Auf dem Amt muss Marx seinen Ausweis abgeben, doch er merkt, dass man ausgerechnet seinen markanten Namen in keiner Liste findet. "Gehen Sie ins Nebenzimmer", sagt der Beamte und gibt den Ausweis zurück. Karl Marx geht nicht ins Nebenzimmer, sondern nach Hause.

Szenenwechsel. Eine Frau trägt die Haare kurz und blondiert, ihre Sätze betont sie rheinisch am Ende, gelegentlich mischt sich noch ein "ebent" hinein. Romy Schneider sitzt in einer hellen Wohnung, sieben U-Bahnstationen von Karl Marx entfernt. Auf dem Laminatboden spielt der kleine Erik, nebenan kocht ihr Mann. Sie sieht unbekümmert aus. Romy Schneider wurde in Cottbus geboren, neun Monate bevor die Schauspielerin Romy Schneider 1982 in Paris starb.

Die Ururgroßmutter fuhr noch per Schipperkahn durch den Spreewald, die Mutter schaute im Westfernsehen heimlich die "Sissi"-Filme. Die volkstümliche Kaiserin blieb für viele identisch mit ihrer Darstellerin, mit Romy Schneider. Ein Sehnsuchtsname. Von rund 40 Romy Schneiders im Telefonbuch lebt fast die Hälfte in den neuen Ländern. Erich Honecker soll die Zensoren persönlich gebeten haben, Schneiders letzten Film "Die Spaziergängerin von Sanssouci" im DDR-Fernsehen zu zeigen. Romy Schneider war einmal in Paris, Silvester 2002, mit Rainbow-Tours.

Es war ihr zu kalt, zu teuer, sie hatte Angst vor den französischen Männern: die sähen Frauen an Silvester als Freiwild. Alain Delon, die große, tragische Liebe der Schauspielerin Schneider, kennt sie nicht. Sie mag "Gute Zeiten, schlechte Zeiten".

Romy Schneider arbeitet in einem Callcenter. Mindestens einmal am Tag wird sie nach ihrem Namen gefragt, und anschließend wird sie meist gefragt, wie oft man sie das heute schon gefragt habe. Inzwischen würde sie sich gerne anders nennen. Darf sie aber nicht. Auch ihr Mann hat vor der Hochzeit gesagt, sie solle den schönen Namen ja nicht weggeben.

Kürzlich wurde sie zu einer Namens-Show eingeladen, mit Johannes B. Kerner. Da saß sie dann mit Konrad Adenauer ziemlich weit hinten und sah dem Moderator zu, wie er sich mit den vorderen Reihen unterhielt, ein Gerhard Schröder war da und ein anderer Johannes B. Kerner. Kerner war ihr unsympathisch, Fahrtkosten plus Freigetränk fand sie etwas wenig für den Aufwand. Für ihre Mutter, die heute von Hartz IV lebt, war der Name ein kleines Fenster in den Westen. Romy Schneider ist längst dort angekommen. Sollte es wieder Arbeit geben, will sie zurück nach Brandenburg.

Es gibt alle Arten von Reaktionen. Helmut Kohls, rund hundert von ihnen im Telefonbuch, sind meist genervt. Die meisten haben sich abgefunden mit blöden Kommentaren und gelegentlichen Vorteilen. Die einen haben den großen Namen ihren Eltern zu verdanken, andere haben ihn sich durch Heirat selbst eingebrockt. Nicht hinter allen Namen verbergen sich lustige Geschichten. Marlene Dietrich aus dem schwäbischen Gschwend ist wegen Durchblutungsstörungen Frührentnerin und träumt davon, einmal Berlin zu besuchen. Thomas Mann aus Nauen, schwerbeschädigt, hat noch nie ein Buch seines Namensvetters gelesen. "Klar, berühmter Schriftsteller", sagt er. "Bin ich nicht. Ich bin Staplerfahrer." Ein paar Sätze später sagt er, das mit dem Namen sei "manchmal fast wie'n Kompliment". So als Berühmtheit angesprochen zu werden. "Man kommt sich was vor."

Manche grenzen sich auch ab. Petra Kelly zum Beispiel, Gymnasiallehrerin aus Wilnsdorf bei Siegen. Die Grünen-Ikone ist nicht ihre politische Richtung, und vom eigenen Mann erschossen zu werden sei doch kein schönes Schicksal. Eine Art Bilanzsuizid sei das wohl gewesen, weil die Kelly an ihrem Idealismus verzweifelte. "Mir wäre das nicht passiert, ich würd' mich nicht wegen der Politik umbringen", sagt die 58-Jährige. "Ich bin da viel machiavellistischer."

"Gegenüber vom Abendmahl", hatte Martin Luther den Treffpunkt beschrieben. Das Abendmahl ist ein Restaurant auf Sankt Pauli - ein Viertel, in das Luther passt. Trainingsjacke, Zweitagebart, grundentspannt. Gleich nebenan liegt sein Studio, in der Nähe betreibe ein Günther Jauch seine Kneipe, erzählt er. Martin Luther, 36, ist Fotograf. Vielleicht ist er mit dem alten Luther verwandt, die Urgroßeltern kamen aus der Nähe von Wittenberg, er hat das nie verfolgt. Das mit dem Namen ist Tradition, in der Familie heißen die Erstgeborenen seit vier Generationen so. Auch das gibt es öfter, den großen Namen als Erbe.

Manche finden das schrecklich. Wilhelm Tell zum Beispiel, Beamter aus Buchholz und nach seinem Vater benannt, würde seinen Sohn nie so nennen, er hat in der Schule genug gelitten. Martin Luther dagegen hatte nie Probleme. Nur in den USA gab es Aufruhr, dort dachten alle an Martin Luther King. "Da war nicht ranzukommen." Luther stellte Überlegungen an warum, sagt aber gleich, er kenne die USA nicht wirklich. Später spricht man über "Lutherans", die von ihm Geld zur Namensforschung wollten, und über die im Internet gekauften Familienwappen, die in vielen amerikanischen Fluren hängen. "Nenn' es Glauben oder was auch immer", die Sehnsucht nach Wurzeln erstrecke sich drüben wohl auch auf Namen. Er könne das aber, wie gesagt, nicht richtig beurteilen. Martin Luther ist vorsichtig mit seinen Thesen.

Nur einmal hat er sich mit dem anderen beschäftigt, für eine Fotoausstellung, die er alljährlich organisiert. Er ist ins Hamburger Wachsfigurenkabinett gegangen, wo sein Namensvetter vor einer Bretterwand steht und hat ihn fotografiert. Das Austellungsthema war "Respekt". Er hätte das Bild aber auch im Vorjahr gemacht, zum Thema "Klischee". Martin Luther ist sich sicher: "Es gibt die Person, und es gibt den Namen, die haben ursächlich nichts miteinander zu tun."

Es ist nicht immer so. Ein großer Name kann ein Traum sein wie bei Romy Schneider, abschreckend wie für Petra Kelly, Tradition wie bei Martin Luther. Er kann aber auch ein Auftrag sein.

In Köln sagt Karl Marx nach längerem Schweigen: "Ich habe es auch als Festlegung empfunden." Sein Vater habe stets so getan, als sei der Name ein Versehen gewesen. "Aber das war Absicht." Als Marx 18 war, starb die Mutter. Vater und Sohn lebten fortan alleine, redeten Nächte durch, es ging um Politik, um Grundsätzliches. Der Vater hatte eine Botschaft: Unter Philosoph oder Künstler sollte man nichts werden. Nicht nur Marx, Hegel und die "Buddenbrooks" ließ er ihn lesen. Morgens hinterließ der Vater Pappkarten mit Landschaftsskizzen, die bis abends koloriert werden mussten. "Er war auf dem besten Weg, mir die Lust an der Kunst zu verderben", sagt Marx lachend.

Soweit ist es nicht gekommen. Marx flog zwar vom Gymnasium, schaffte es aber auf die Kölner Werkschulen. Die Gebrauchsgrafik, die dort gelehrt wurde, ödete ihn bald an. Doch dann nahm sich ein Dozent seiner an. Als die Studenten Ende der sechziger Jahre an deutschen Hochschulen aufbegehrten und dabei Marx, den Philosophen, zitierten, war Marx, der Maler, längst selbst Dozent für Freie Malerei. Was aus den Schriften seines Namensvetters gemacht wurde, hielt er für eine Katastrophe, die Revolte aber für überfällig. Karl Marx wurde zum Vermittler. Das Bildungsministerium rief an, weil ein Kollege in Krefeld sich heillos mit seinen Schülern zerstritten hat. Er besorgte dem Mann einen Lehrauftrag in Köln und stand ihm künftig bei, wenn die Studenten wieder diskutieren wollten, ob Kunst ein Beruf sei.

Heute arbeitet Marx nur noch in seinem Atelier, einer früheren Autowerkstatt im Westen von Köln. 1000 Quadratmeter voller expressiver, großformatiger Bilder, die Böden bedeckt mit Farbeimern, Farbtuben, Eierschalen. Marx führt durch einen überwucherten Innenhof in eine Halle. An der Wand zwei besonders abstrakte Bilder, Teil eines Projekts, das ihn schon lange beschäftigt: Interpretationen des "Floßes der Medusa", der berühmten Darstellung Schiffbrüchiger, gemalt vom Romantiker Théodore Géricault. Marx arbeitet sich an den Bildelementen ab, hebt mal das Segel hervor, mal ein Gesicht. Auch so könne man das Ganze sehen, sagt er und reicht eine Collage. Die Körper der Schiffbrüchigen stammen von einem Foto, es sind KZ-Opfer.

Kurz nach dem Krieg hatte Marx in einem Kino Aufnahmen gesehen, die Alliierte in den Konzentrationslagern gemacht hatten. Danach betrank er sich in einer Kneipe. Sein Vater hatte sich um die Familien von KZ-Häftlingen gekümmert. In den Bildern des Sohnes geht es oft um Krieg, Gewalt, Tod: Frauenakte über Hakenkreuzen, Bunker am Strand, aber auch der Diplomat Gerold von Braunmühl, niedergestreckt von Kugeln der RAF. Karl Marx glaubt nicht, dass sich die Menschheit weiterentwickelt und er glaubt nicht an Ideologien. Der Kommunismus sei eine schöne Idee, findet er, aber er widerspreche den menschlichen Trieben. Philosoph oder Künstler, lautete der Auftrag. Marx entschied sich für die Kunst. Wurde Professor, sogar Dekan, doch erst Anfang der achtziger Jahre hatte er seine erste eigene Ausstellung.

In einem Kunst-Katalog zum 65. Geburtstag steht geschrieben: "Karl Marx ist ein großer Maler. Wenige haben es bemerkt." Vor einem Jahr erschien die 21. Auflage der Brockhaus Enzyklopädie. In Band 17, Seite 767, stand unter "Marx, Karl" neben "bedeutendster Theoretiker des Sozialismus, *Trier" plötzlich auch "Maler, *Köln". Vor das Foto des Nationalökonomen wurde ein Bild des Malers gedruckt. Es ist sogar größer.

© SZ am Wochenende vom 2. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: