Nachfahren der Meuterer:Missbrauchsvorwürfe in der Bounty-Idylle

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Meuterei und ein Leben nach eigenen Regeln auf einer kleinen Pazifik-Insel war gestern. Heute müssen die Nachkommen der britischen Seefahrer sich den Vorschriften des Festlandes unterwerfen: Die Hälfte der Männer von Pitcairn steht wegen sexuellen Missbrauchs vor Gericht.

Von Ingo Petz

Pitcairn liegt abseits von allem. Flugzeuge können auf der Pazifik-Insel nicht landen, weil sie zu klein ist. Ein Schiff braucht für die über 3000 Kilometer von Neuseeland aus acht Tage. Anlegen können die Schiffe nicht, da es keinen Hafen gibt. Für Fletcher Christian und seine Crew war die subtropische Insel der richtige Ort, um dem langen Arm des britischen Rechts zu entfliehen. Schließlich hatten sie 1789 gegen ihren Captain Bligh gemeutert und ihr Schiff, die HMS Bounty, niedergebrannt.

Die neun Meuterer ließen sich auf der Inselgruppe im blauen Nichts zwischen Neuseeland und Peru mit ihren tahitianischen Frauen nieder und vermehrten sich. 1937 lebten 233 Menschen auf der Insel, heute wohnen dort nur noch 45 Nachfahren. Und erstmals in ihrer Geschichte sehen sich die Pitcairner nun doch noch so ernsthaft mit dem Recht der Krone konfrontiert, dass die Existenz der abgelegensten britischen Kolonie bedroht scheint.

Nachforschungen im Inselleben

Denn an diesem Mittwoch beginnt in Papakura, einem südlichen Bezirk der neuseeländischen Metropole Auckland, ein Prozess gegen sieben Männer aus Pitcairn, die wegen sexueller Nötigung, Missbrauchs und Vergewaltigung von Frauen und Minderjährigen auf der Insel in bis zu 40 Fällen angeklagt sind. Dieselbe Beschuldigung trifft auch sechs weitere Pitcairner, die nicht mehr auf der Insel leben. Ans Licht gekommen waren die Taten, als eine Vergewaltigung 1999 dem für die Insel zuständigen Gouverneur, der in Neuseelands Hauptstadt Wellington residiert, gemeldet worden war.

Britische und neuseeländische Polizisten führten seither Nachforschungen auf der Insel durch und trugen zahlreiche Fälle der sexuellen Nötigung, des Missbrauchs und der Vergewaltigung zusammen, die bis 40 Jahre zurück liegen.

Die Aktion wurde von den Ermittlern "Operation Einzigartig" getauft: Denn die exponierte Lage sollte keine Verhandlungen auf der Insel zulassen. Es gibt zwar ein noch nie benutztes Gerichtsgebäude, aber keine Anwälte und Richter. Straftaten waren auf der Insel bisher intern vom Pitcairner Rat verhandelt worden, mit Hilfe des britischen Rechts und eigenen Regeln.

Vier Jahre dauerte es, um Anklage gegen letzten Endes zwölf Männer zu erheben. Im Dezember 2002 erließ die neuseeländische Regierung ein Gesetz, das es möglich machte, die Verhandlung in Neuseeland durchzuführen - unter britischem Recht. Seitdem sitzt der Pitcairn Supreme Court unter einem Bild der britischen Königin, der Flagge der Kolonie und dem Vorsitz des neuseeländischen Richters Charles Blackie in Südauckland.

Von Hoheitsrechten und Unabhängigkeit

Die Pitcairner dagegen forderten, die Verhandlung auf der Insel durchzuführen. Der Anwalt der Angeklagten, der Neuseeländer Paul Dacre, erregte Aufsehen, als er das britische Hoheitsrecht über Pitcairn in Frage stellte und die Insel für unabhängig erklärte - weil die Meuterer sich die Insel gesucht hätten, um frei vom Mutterland zu leben. Also müssten die Angeklagten nach Pitcairner Recht verurteilt werden, so seine Schlussfolgerung.

Allerdings wurde die Insel 1887 zur Kolonie erklärt, die Einwohner besitzen seitdem britische Pässe und die rechtlich-historische Tradition sei deshalb auf Seiten Großbritanniens, befand auch das Pitcairn Supreme Court diesen April in Papakura, Neuseeland.

Ein Urteil über die Lebensweise

Die Pitcairner sind empört. Sie sehen sich als Opfer der Kolonialmacht, die sich nie wirklich um sie gekümmert habe. Tatsächlich verstehen die Bewohner die anstehende Verhandlung auch als ein Urteil über ihre Lebensweise. Die Anschuldigungen der sexuellen Nötigung würden auf anderen kulturellen Werten beruhen. Das sagte Pitcairns Bürgermeister Glynn Christian, ein Ur-Ur-Ur-Ur-Enkel des legendären Meuterers, dem New Zealand Herald.

Tatsächlich sei Sex mit Zwölfjährigen auf der Insel "relativ normal", sagte auch ein Ex-Pitcairner der Zeitung. Das Leben beruhe auf dem Erbe der Tahitianerinnen und ihrer Meuterer. "Weil die Männer alles kontrollierten, ist die Unmoral besonders verbreitet", so der ehemalige Inselbewohner.

Der Imageschaden für Pitcairn ist immens. "Unsere Existenz ist bedroht", schrieb etwa die 59-jährige Betty Christian in einem Leserbrief im Herald. "Was immer entschieden wird, es wird uns alle betreffen, weil wir sowohl mit den Opfern als auch mit den Tätern verwandt sind." Außerdem glauben die Pitcairner, dass ohne die angeklagten Männer die "Long Boats" künftig nicht mehr zu Wasser gelassen werden können. Denn mit denen fahren die Pitcairner alle paar Monate passierende Schiffe an, denen sie ihre Holzschnitzereien oder bei Sammlern gefragten Briefmarken verkaufen - andere Einnahmequellen gibt es nicht. Wann die ersten Urteile zu erwarten sind, ist noch unklar. Eines aber ist sicher: Pitcairn wird nie mehr so abseits sein.

© SZ vom 16.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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