Nach dem Beben in Pakistan:Zehntausenden droht der Kältetod

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Im Krisengebiet schlafen die Menschen auf nacktem Boden, weil es an winterfesten Zelten fehlt.

Von Manuela Kessler und Andreas Bock

Hunderte Zelte und Unterstände sind infolge der vielen Niederschläge bereits zusammengebrochen, Erdrutsche haben die meisten Zugangsstraßen verschüttet, die Helikopter haben ihre Hilfsflüge zeitweilig ausgesetzt.

Der Winter ist spät, aber mit Kraft hereingebrochen am Fuße des Himalaja, wo ein Erdbeben der Stärke 7,6 am 8. Oktober schätzungsweise 85000 Menschen getötet, ebenso viele verletzt und mehr als drei Millionen Menschen obdachlos gemacht hat.

Seit Neujahr hängt ein Tief über dem Gebiet im Nordosten von Pakistan. Eisiger Regen geht auf die Täler nieder, bis zu einem Meter Schnee sind auf die Gebiete jenseits der 2000-Meter-Marke gefallen, und das meteorologische Amt von Pakistan sagt sogar Stürme bis Ende dieser Woche voraus.

200.000 Menschen ohne jedes Obdach

Die Bilder aus der Katastrophenregion sprechen für sich: Wind und Wetter setzen den Obdachlosen böse zu. So starben erst in der vergangenen Woche mehr als 20 Menschen, als sie von einer Lawine verschüttet wurden. Diese war offenbar von einem Nachbeben ausgelöst worden.

Die Vereinten Nationen schätzen, dass 2,5 Millionen Menschen inzwischen Zuflucht in den Tälern gefunden haben und in Zelten und in Verschlägen leben, die sie an ihre Hausruinen angebaut haben. Allerdings gehen die UN auch davon aus, dass derzeit noch immer annähernd 200.000 Menschen völlig ohne jedes Obdach sind und bar jeder Hilfe irgendwo in den Bergen leben müssen.

Und sie sind es, denen in den nächsten Wochen und Monaten ein eisiger Tod droht. Nach Schätzungen der IOM (Internationale Organisation für Migration) und WFP (World Food Programme) könnte sich die Zahl der Todesopfer durch Eis und Schnee in den nächsten Wochen sogar auf 200.000 erhöhen. Laut WFP-Direktor James Morris ist das Erdbeben in Pakistan "die schlimmste Naturkatastrophe", mit dem seine Organisation je zu kämpfen hatte.

Dort wo die Menschen notdürftige Unterkünfte errichtet haben, hat der eisige Dauerregen den Boden in einen Morast verwandelt. Die Verankerungen geben langsam nach, und der Platz reicht oft nicht aus, das Brennholz vor der Nässe zu schützen. Die klirrende Kälte trifft die meisten Menschen völlig ungeschützt.

Mindestens drei Viertel der verteilten Zelte sind nicht wintersicher, das heißt, sie besitzen keinen Boden aus PVC, der die Wärme halten könnte und die Feuchtigkeit abhalten würde. Die pakistanische Armee und die Vereinten Nationen haben in den vergangenen Wochen Abhilfe zu schaffen versucht, indem sie Wellblech und Plastikplanen an die Obdachlosen verteilten, damit sie sich daraus selbst Unterstände bauen. Insgesamt 68 000 Verschläge sind daraus entstanden.

Die Nachfrage ist ungebrochen, doch gibt es im Krisengebiet schlicht nicht genügend Material für mehr behelfsmäßige Bauten. Genügend Geld für die Erdbebenhilfe ist zwar versprochen worden, doch die Zahlungsmoral des Westens lässt zu wünschen übrig. Außerdem sollen die pakistanischen Behörden nach Angaben von UN-Diplomaten das Geld längst schon für schöne Projekte wie Vier-Sterne-Hotels oder neue Schulen verplant haben. Wie man die Zigtausenden Obdachlosen über den Winter bringen kann, das spielt in den Überlegungen der Behörden offenbar nur eine untergeordnete Rolle.

Schon verzeichnet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter den Lagerbewohnern eine Zunahme der Lungeninfektionen und Hauterkrankungen. Khalif Bile, der Leiter der WHO-Mission in Pakistan, befürchtet, dass den Helfern in spätestens zwei Monaten die Medikamente ausgehen werden, sollte bis dahin der Westen nicht Geld überwiesen haben. Dann, so Bile, könnten epidemische Krankheiten wie Masern oder Typhus, ausbrechen.

Noch besteht den internationalen Hilfsorganisationen zufolge kein Grund zu akutem Alarm. Die pakistanische Armee hat erklärt, sie habe genügend Vorräte angelegt, um eine Woche ohne Hilfslieferungen überbrücken zu können. Der Winter aber dauert im Himalaja sehr lange.

Und der Weg von der Hauptstadt Islamabad zum Katastrophengebiet ist extrem beschwerlich. Denn jeder Sack Mehl, jede Decke und jedes Zelt muss mit einem Hubschrauber eigens in die kaum zugängliche Bergregion geflogen werden. Und das ist nicht nur riskant. Die Transporte verschlingen darüber hinaus auch Unsummen an Geld; Geld, das nicht vorhanden ist.

Laut WFP-Direktor Morris hat seine Organisation die Verantwortung für gut 1,3 Millionen Obdachlose übernommen. Die Organisation hat nach eigenen Angaben genügend Nahrungsmittel für die nächsten Monate, was aber laut Morris fehlt, ist das Geld, um den kostspieligen Transport per Hubschrauber zu finanzieren. Und deshalb dürfte die Einschätzung der Vereinten Nationen wohl nicht zu hoch gegriffen sein, dass bis zu 200.000 Menschenleben durch den Winter ernsthaft bedroht sind.

© SZ vom 4.1.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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