Nach dem Amoklauf in Berlin:Der zweite Schock

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Für Opfer und Ersthelfer des Berliner Amoklaufs hat eine quälende Zeit der Ungewissheit begonnen, denn einer der Verletzten trägt das Aids-Virus. 56 Personen werden nun mit Medikamenten behandelt, die eine HIV-Infektion über die Tatwaffe verhindern sollen. Sicherheit gibt es erst in einigen Wochen.

Evelyn Hauenstein

Für Opfer und Ersthelfer des Berliner Amoklaufs beginnt nun eine quälende Zeit der Ungewissheit.

Opfer des Amokläufers und Ersthelfer sollten sich in der Charité oder im Rudolf-Virchow-Klinikum melden. (Foto: Foto: ddp)

Eines der ersten Opfer des 16-jährigen Mike P. hatte angegeben, HIV-positiv zu sein. Alle Opfer und Helfer wurden aufgerufen, sich umgehend in ärztliche Behandlung in die Charité oder das Rudolf-Virchow-Klinikum zu begeben.

Bis zum Sonntagvormittag hatten sich 56 Personen in den beiden Krankenhäusern gemeldet. Sie wurden dort mit Medikamenten versorgt, die einer Infektion mit dem HI-Virus vorbeugen sollen. Doch erst Wochen nach dem Amoklauf können sie sich sicher sein, dass sie sich nicht angesteckt haben.

Ob HIV tatsächlich durch Messerstiche übertragen werden könne, wisse niemand, sagte der Direktor der Medizinischen Kliniken für Infektiologie an der Charité, Norbert Suttorp. Bisher ist kein solcher Fall bekannt.

Das HI-Virus wird hauptsächlich durch Blut, Sperma und Vaginalsekret übertragen. Die Ansteckungsgefahr ist am größten, wenn virushaltiges Blut mit Blut von nicht-infizierten Personen in Kontakt kommt.

Wenn mehrere Menschen nacheinander durch ein Messer verletzt werden, ist die Infektionsgefahr am höchsten für diejenigen, auf die Mike P. unmittelbar nach dem HIV-positiven Opfer eingestochen hatte.

Infektionsgefahr hängt von der Virenlast ab

Außerdem hängt die Gefahr einer Übertragung stark davon ab, wie viele Viren der HIV-Positive tatsächlich im Blut hatte. Ist die so genannte Viruslast niedrig, sinkt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich andere über ihn infizieren.

Daraus folgt auch: Je geringer die übertragene Blutmenge, umso geringer das Ansteckungsrisiko. Die Amok-Opfer dürften nur relativ kleinen Mengen fremden Blutes ausgesetzt gewesen sein: Das Blut auf dem Tatmesser sei bei jedem Stich durch die Kleidung der Opfer abgewischt worden, sagte der Ärztliche Direktor der Charité, Ulrich Frei.

Keinerlei Infektionsgefahr besteht dann, wenn HIV-haltiges Blut auf unverletzte Haut fließt. Helfer, die mit dem Blut der Opfer in Berührung gekommen sind, können sich also kaum angesteckt haben - sofern sie keine Schnittwunden hatten.

Übertragung durch Stichverletzungen möglich

Fest steht aber auch: Das HI-Virus kann tatsächlich durch Stichverletzungen übertragen werden. Drei von tausend Personen, die sich versehentlich mit infizierten Nadeln oder OP-Instrumenten gestochen hatten, haben sich angesteckt.

Deshalb erhalten Ärzte, Pflegekräfte oder andere Krankenhausangestellte nach Kontakt mit HIV-positivem Blut vorsorglich einen Medikamentencocktail.

Sie schlucken eine Kombination aus drei verschiedenen Wirkstoffen, die die Vermehrung des Virus verhindern sollen - die so genannte "Postexpositionsprophylaxe".

Die Medikamente sollen so schnell wie möglich eingenommen werden, am besten innerhalb der ersten zwei bis vier Stunden nach dem Kontakt mit infiziertem Blut.

Schon zwei Stunden nach ihrem Eintritt in einen fremden Blutkreislauf docken die HI-Viren an die Immunzellen an. Zehn Stunden später haben sie ihre Erbsubstanz eingeschleust und nach weiteren zwölf Stunden vermehren sie sich bereits.

Die Vorsorgebehandlung muss vier Wochen lang fortgesetzt werden. Dann kann sie den Ausbruch einer Infektion verhindern - wenn auch nicht in jedem Fall.

Seit 1997 ist bekannt, dass die "Postexpositionsprophylaxe" eine HIV-Infektion in vier von fünf Fällen verhindern kann.

Bei manchen Menschen führt ein einziger Kontakt mit HIV-haltigen Körperflüssigkeiten zur Infektion, andere haben jahrelang ungeschützten Sex mit HIV-positiven Menschen, ohne sich anzustecken.

© SZ vom 29.05.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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