Montblanc-Prozess:Ein einfacher Chauffeur und eine große Tragödie

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Vieles spielte mit bei der Brandkatastrophe im Montblanc-Tunnel mit 39 Opfern, viele könnten verantwortlich gemacht werden. Doch im Zentrum des Prozesses steht nun ein Lkw-Fahrer.

Von Gerd Kröncke

Paris - Bleibt nun alles an einem hängen? Gilbert Degrave war es, der seinen Volvo-Lastwagen an jenem verhängnisvollen 24. März vor sechs Jahren bei Kilometer 6,54 in der Mitte des Montblanc-Tunnels stehen ließ und in Richtung Italien flüchtete.

Apokalyptisch und surreal: Was sich im Montblanc-Tunnel bei über 100 Grad abgespielt hat, "war surreal und apokalyptisch" meinen die Experten. Der ausgebrannte Feuerwehrwagen lässt das Grauen nur erahnen. (Foto: Foto: dpa)

Der Lastwagenfahrer, heute 62 Jahre alt und seit zwei Jahren im Ruhestand, ist die Schlüsselfigur im Prozess von Bonneville, aber ist er auch der Schuldige, dem die 39 Todesopfer angelastet werden können? Es gab eine Szene vor dem Gerichtsgebäude, da nahm eine Witwe den Angeklagten in die Arme.

Er war der Einzige, der den Hinterbliebenen in seiner unbeholfenen Art, aber aus tiefster Seele sein Mitgefühl ausgedrückt hat. "Ich habe Teil an dem Schmerz der Familien der Opfer", sagt er vor Gericht.

Schlafstörungen

Der Chauffeur ist ein einfacher Mann, dem es nicht leicht fällt, sich verständlich zu machen. Er schläft kaum oder schlecht seit der Katastrophe. Rémy Chardon dagegen, der Chef der französischen Tunnel-Gesellschaft zur Zeit des Unglücks, spricht kontrolliert und geschliffen.

Er wiederum hat Schwierigkeiten, sein Mitleid gegenüber den Nebenklägern zu bekunden: "Möglicherweise bin ich von Natur aus ein bisschen reserviert und vermittle den Familien gegenüber ein Gefühl der Kälte." Eine Mutter, Nebenklägerin, schleudert den Angeklagten ihre Wut entgegen: "Ich hoffe, Sie werden so bestraft, wie Sie es verdienen."

Denn es geht nicht nur um das mögliche Versagen des Lastwagenfahrers. Es hat vieles nicht gestimmt im System. Die Klimaanlage war nicht in Ordnung, sie heizte den Brand noch an; das Alarmsystem versagte, noch neun Minuten lang waren Menschen in den Tod gefahren.

Kampf der Gutachter

Die vielen Experten finden die Schuld bei der jeweils anderen Partei. Beim Lkw-Hersteller Volvo, beim Tunnelbetreiber, je nachdem, wer die Expertise angefordert hat.

Überhaupt haben die meisten Hinterbliebenen nicht in erster Linie den Lkw-Fahrer im Visier, sondern die Oberen. Sie werde "dem Staat" niemals verzeihen, dass er die Augen zugemacht hat vor allen Fragen der Sicherheit, rief eine verzweifelte Mutter in den Saal und zitierte einen hohen Beamten mit der Bemerkung, dass "39 Tote auf 34 Jahre gerechnet nicht sehr viel" seien.

Die Experten tragen zum Teil einander ausschließende Ergebnisse vor, je nachdem, auf wessen Antrag sie in den Zeugenstand gerufen wurden. Einmal wird der Ort gezeigt, an dem die 39 Opfer zu Tode gekommen sind, 39 Menschen zwischen 21 und 83 Jahren. Der Vorsitzende lässt einen Film vorführen, der einen Monat nach dem Inferno gedreht wurde.

Apokalyptisch und Surreal

Es wird furchtbar still im Saal. Die Fahrzeuge sind als solche kaum zu erkennen. Was sich dort bei über 1000 Grad abgespielt hat, "war surreal, apokalyptisch", sagt ein Experte. Sechs Monate hatte es gedauert, bis alle Opfer identifiziert waren. Man hat nicht auf DNS-Analysen zurückgreifen müssen, oft haben Zahnfragmente ausgereicht.

Ein Dutzend direkt Angeklagte und vier juristische Personen müssen sich in der zum Gericht umgebauten Festhalle von Bonneville verteidigen. Doch kehrt das Interesse immer wieder zum Lastwagenfahrer Gilbert Degrave zurück. Er muss sich vorhalten lassen, dass er seinen brennenden Laster, der mit 20 Tonnen Margarine und anderen Lebensmitteln schwer beladen war, in eine Parkbucht hätte rangieren müssen.

Stattdessen hatte er sein qualmendes Gefährt ausrollen lassen und schließlich zwischen zwei Buchten gestoppt. "Hinterher ist man klüger", sagte er in eine Fernsehkamera, an all die gewandt, die es nun besser wissen. Vor seinen Richtern sagt er dann, er würde alles wieder so machen: "Dass ich auf der Straße blieb, sollte verhindern, dass mich jemand überholt und gegen die Entgegenkommenden prallt."

LKW-Fahrer als Sündenbock

Am 15. Tag der Verhandlung wird deutlich, dass auf dem Lastwagenfahrer Degrave, der mehr als drei Jahrzehnte unfallfrei blieb und im letzten Jahrzehnt mehr als 300 Mal durch den Montblanc-Tunnel gefahren ist, Schuld abgeladen wird. Eine Kernfrage bleibt, ob er sein Fahrzeug wirklich aus der Gefahrenzone hätte bringen können.

Wieder wird ein Film vorgeführt: Man sieht einen Lkw, der einparkt, doch ragt ein Teil auf die Straße. "Aber beim zweiten Versuch ist das Resultat besser", kommentiert der Gerichtsvorsitzende. Die drei Verteidiger des Lastwagenfahrers monieren nicht, dass die Parkbucht vier Meter länger ist als die, die er hätte ansteuern können, und dass das gefilmte Experiment unter stressfreien Bedingungen stattfand - ohne jeden Rauch und in einem für den Verkehr gesperrten Tunnel.

Degrave aber fürchtete an jenem Morgen um sein eigenes Leben. Vielleicht nehmen ihm manche übel, dass er nicht selbst zu Tode kam. Wie John Maynard in der Ballade, der sein brennendes Boot über den See bringt und am Steuerrad stirbt.

© SZ vom 25.02.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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