Mondscheinkinder:Ein Leben im Schatten der Nacht

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Die Sonne ist ihr größter Feind, denn das Licht zerstört ihre Haut - wie eine junge Frau sich mit einer unheilbaren Krankheit arrangiert.

Von Antje Weber

München, im April - Alles Leben strebt zum Licht. Und plötzlich versucht das Licht, das Leben zu vernichten.

Die Geschichte beginnt in Mersin, einer Hafenstadt im Südosten der Türkei. Ein Baby spielt mit seinen Eltern im Sand, es ist der erste Strandausflug seines Lebens, Wasser, Sonne, ein schöner Tag. Am Abend ist das Kind krebsrot, überall sind Flecken, große und kleine, auf der Nase, auf den Wangen.

Die Großeltern schimpfen, die Mutter verteidigt sich: War doch nur ein kurzes Sonnenbad. Wird schon nicht so schlimm sein. Doch es ist kein normaler Sonnenbrand, und es ist viel schlimmer, als irgend jemand in der türkischen Großfamilie sich auch nur annähernd vorstellen kann.

Es ist der Tag, an dem das Leben der Uluyardimcis ein für alle Mal überschattet wird, in der konkretesten und fürchterlichsten Bedeutung des Wortes.

Ein Zuhause im künstlichen Licht

Ein grauer, wolkenverhangener Nachmittag in einem Vorort von Fürstenfeldbruck. Merve sitzt im gelb gestrichenen Wohnzimmer einer Zweizimmerwohnung im sechsten Stock eines Mietshauses. Das Zimmer ist abgedunkelt, der Blick nach draußen versperrt.

Kein Tageslicht dringt in die Wohnung, die mit den heruntergelassenen Rollläden, Schutzfolien und dichten Vorhängen wie eine düstere Festung wirkt. Ein paar Leuchten mit Spezial-Glühlampen tauchen das Wohnzimmer in künstliches Licht. Ganz normal für Merve, die gerade begonnen hat, ihre Geschichte zu erzählen.

Sonne zerstört den Körper

Mit einer Selbstverständlichkeit und Lebhaftigkeit, die den Schreck über ihren ersten Anblick schnell vergessen lässt. Denn Merve Uluyardimci sieht nicht aus wie andere 19-jährige Mädchen in ihrem Alter. Zwar hat sie dichte braune Haare, die sich über ihre Schultern kringeln. Zwar hat sie eine zarte Figur und eine modische Kappe auf dem Kopf.

Doch darunter hat die Sonne ihr Gesicht zerstört, wie überhaupt jeden Millimeter Haut auf Merves Körper, der mit Licht in Berührung gekommen ist. Dekolleté und Hände sind mit Pigmentflecken übersät. Und das Gesicht, nun, es ist eines aus Chirurgenhand: Die schmale Nase darin erinnert ein bisschen an die von Michael Jackson, die Augen sind rot geränderte Sehschlitze, und die leicht verzerrten Züge rund um die Lippen lassen die Narben der Transplantationen erahnen.

Insgesamt hat Merve an die hundert Operationen hinter sich, bei fünfzig hat sie aufgehört zu zählen. Die Operationen waren nötig, um den Hautkrebs in Schach zu halten. Der Hautkrebs wiederum ist entstanden, weil Merve eine äußerst seltene Krankheit hat: Xeroderma pigmentosum, eine Erbkrankheit, bei der ein Mangel an DNA-Reparaturenzymen verhindert, dass der Körper die durch UV-Strahlen entstehenden Schäden der Haut reparieren kann.

Jedes Licht schädigt

Xeroderma pigmentosum, nicht zu verwechseln mit einer im Laufe des Lebens erworbenen Lichtunverträglichkeit, unter der Hannelore Kohl litt, ist bis jetzt unheilbar. Nicht nur Sonnenlicht, überhaupt jedes Licht ist für die Patienten schädlich und meist über kurz oder lang tödlich: Zwei Drittel der Kinder sterben an Hautkrebs, bevor sie erwachsen sind.

Da die Patienten das Licht unter allen Umständen meiden müssen und möglichst nur nachts beim ungefährlichen Mondlicht das Haus verlassen sollten, werden sie "Mondscheinkinder" genannt. So wenige Betroffene gibt es weltweit - die Zahl in Deutschland wird auf 90 geschätzt -, dass selbst manche Ärzte nicht viel über die Krankheit wissen.

Und so kam es zur Odyssee der Merve Uluyardimci, Tochter eines Lebensmittelhändlers und einer Kindererzieherin. Einer Odyssee durch Europa mit einem vorläufigen, einem hoffentlich guten Ende in Fürstenfeldbruck. Aber wer weiß das schon. Und überhaupt: Noch ist die Geschichte längst nicht zu Ende.

Flascher Rat der Ärzte

Irgendwann jedenfalls, damals in Mersin, ging die Mutter zum Onkel, einem Apotheker, von dem es hieß, dass er alles wisse. Und immerhin wusste er auch diesmal, dass es sich um eine schwere Krankheit handeln musste.

Er schickte sie zum Arzt, der schickte sie weiter an die Uniklinik in Ankara. Dort stellten die Ärzte die richtige Diagnose. Doch sie rieten den Eltern nur, dass Merve künftig die Sonne meiden solle. Also muss man sich ein Kind vorstellen, das nachmittags mit einem Sonnenschirm zum Strand marschiert, mit Stiefeln, Hut und langen Ärmeln.

Und man kann auf alten Fotos, die Merve aus dem Nachbarzimmer holt, die fatalen Folgen studieren: Erst lächelt da ein hübsches Baby neben dem älteren, gesunden Bruder. Wenige Jahre später blickt ein verstörtes Kind mit verschwollenem, entstelltem Gesicht in die Kamera. Ein Kind, das sich im Haus versteckt, wenn es wieder mal zum Arzt gehen soll.

"Nachts aber schlafen alle Leute"

Die Mutter will sich mit dem immer schlechteren Zustand ihrer Tochter nicht abfinden, sie fliegt mit der Sechsjährigen nach London. Dort hört sie erstmals die Härte der ganzen Wahrheit: dass ihrer Tochter jeglicher Kontakt mit UV-Licht verboten ist. "Der Professor hat gesagt, sie soll in der Nacht wach bleiben und am Tag schlafen", sagt die Mutter in gebrochenem Deutsch, und noch bei der Erinnerung daran schüttelt sie den Kopf.

"Ich dachte, der Doktor ist dumm. Am Tag sind alle Leute wach: Warum soll nur Merve schlafen? Nachts aber schlafen alle Leute: Was macht dann Merve?"

Doch der Doktor ist nicht dumm. Die Zeit der Operationen beginnt, in London, in der Türkei, an der Berliner Charité. Die Mutter hört von einer besonders guten Betreuung an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und bewirbt sich beim türkischen Staat für einen fünfjährigen Auslandsjob als Erzieherin.

Eine ganze Familie siedelt um

Sie schafft es, in der Nähe von München eingesetzt zu werden, der Vater gibt sein Geschäft auf, die vierköpfige Familie zieht nach Deutschland. Und hier beherzigt Merve schließlich konsequent, was die Ärzte von ihr fordern: Sie führt ein Leben ohne Tageslicht, eine Art Nachtschattendasein. Trotzdem versucht sie, so etwas wie einen annähernd normalen Alltag zu führen.

Morgens um halb sechs steht Merve auf. Sie schmiert sich mit einer ersten Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 60 ein, frühstückt und schmiert sich anschließend mit einer zweiten Sonnencreme ein.

Ein Panzer gegen die Sonne

Dann zieht sie ihren Ausgehpanzer an: eine Strumpfhose, eine Leggins, darüber eine Jeans. Drei Blusen. Sie besitzt auch ein UV-abhaltendes T-Shirt und eine Hose, aber die seien nicht modern, sagt Merve. Da zieht sie lieber mehrere Schichten an, auch wenn sie darunter im Sommer entsetzlich schwitzt. Dann streift sie Lederhandschuhe über, bindet sich zwei UV-abweisende Tücher um Kopf und Gesicht, bis nur noch die Augen frei sind. Vor die kommt eine Schutzbrille. Zum Schluss setzt Merve sich eine Art Helm mit Spezialbeschichtung auf den Kopf.

Sie sieht dann ein bisschen außerirdisch aus, deshalb ist sie froh, dass sie von einem Schulbus zuhause abgeholt wird. Der bringt sie nach München in die Bayerische Landesschule für Körperbehinderte, wo Merve auf die Wirtschaftsschule geht. Zuvor besuchte sie eine Schule in Unterschleißheim. Da musste sie jeden Tag S-Bahn fahren. Es war eher so eine Art Spießrutenfahren.

Angst vor den fremden Blicken

Manchmal wollten die Leute nicht neben ihr sitzen, aus Angst, Merve könnte eine ansteckende Krankheit haben. Manchmal hörte sie blöde Kommentare. "Ich hatte jeden Tag Angst, zur Schule zu fahren", sagt Merve, "jeden Tag war was anderes."

Damals fing sie an, in der S-Bahn Bücher zu lesen, damit sie die Blicke der anderen nicht sehen musste. Dabei kann sie die Leute ja sogar verstehen, die sich über ein Mondscheinmädchen wundern, das aussieht wie vom Mars. "Ich würde auch schauen. Aber ich starre niemanden an. Und ich denke nicht laut."

An der Schule ist es einfacher. Sie ist in einer integrierten Klasse mit körperbehinderten und nicht-behinderten Schülern, viele haben mit den eigenen Problemen genug zu tun. Und doch ist Merve selbst hier etwas Besonderes: In zwei Klassenzimmern sind die Fenster ihretwegen mit Spezialfolie abgeklebt, zusätzlich die Vorhänge zugezogen. Und immer noch reicht der Schutz nicht aus, obwohl Merve möglichst weit vom Fenster weg sitzt. So lässt sie eben die Tücher um den Kopf gewickelt, nur den Helm setzt sie ab. Wird gelüftet, eilt ein Schüler herbei und stülpt ihr fürsorglich den Helm wieder auf.

Kein Lehrer, kein Klassenkamerad hat jemals mehr von Merves Gesicht gesehen als die Augenschlitze hinter der Brille. Es sei denn einmal abends, wenn sie ihre Panzer ablegt. "Dann bin ich ein anderer Mensch", sagt Merve.

Dann geht sie draußen spazieren oder trifft sich am Wochenende mit Freundinnen, sie gehen ins Café und auch mal in die Discothek. Im Winter währt die Merve zugestandene Freiheit länger, im Sommer reichlich kurz.

Lange Stunden bis zum Sonnenuntergang

Manchmal verrinnen die Stunden bis Sonnenuntergang in der Zweizimmerwohnung dann nur quälend langsam. Wenn Merve sich zu sehr langweilt, fängt sie an zu malen: attraktive Frauen mit ernsten Gesichtern und dunklem Haar. Oder sie setzt sich an den Computer und schreibt Gedichte, in denen stets die Sonne im Mittelpunkt steht.

"Wenn ich in die Welt schreie, was du mir genommen hast", übersetzt sie aus dem Türkischen, "dann wird der Mond, der nach deiner Liebe verrückt ist, dir nicht verzeihen."

Merve macht sich keine Illusionen. Mit ihrem Leben kann es schnell zu Ende gehen, wenn ein bösartiger Tumor zu wuchern beginnt. Sie scheint damit auf eine gelassene Art zurecht zu kommen, konzentriert sich ganz aufs Hier und Jetzt: "Ich weiß, dass ich mit dieser Krankheit leben muss."

"Mir war alles egal"

Das war nicht immer so. Einmal, nach den grausam schmerzhaften Gesichtstransplantationen vor ein paar Jahren, hätte sie beinahe aufgegeben. Sie wollte nicht mehr leben, schon gar nicht mehr zur Schule gehen: "Mir war alles egal."

Ärzte und Lehrer bemühten sich damals so sehr um sie, dass sie weitergemacht hat - ihnen zuliebe. Heute fühlt sie sich für ihr Leben selbst verantwortlich. Hat sich ein Ziel gesetzt: die Schule fertig machen, einen guten Abschluss schaffen. Danach vielleicht eine weiterführende Schule, eine Ausbildung zur Werbekauffrau. Doch ein Schritt nach dem anderen. "Ich muss erst diesen Tag überstehen, damit ich morgen leben kann."

Glücklich in der Heimat

Die schönsten Wochen des Jahres sind die Weihnachtsferien, wenn Merve in die Türkei zu den Verwandten fliegt, die ihr zuliebe dann die Nacht zum Tag machen und den Tag zur Schlafenszeit. Wo sie die Großeltern sieht, die Tanten und den Bruder, der als inzwischen Erwachsener keine Aufenthaltsgenehmigung mehr für Deutschland besitzt.

Sie selbst und ihre Eltern werden hier bleiben müssen: wegen der geringeren Sonnenstrahlung und Hitze, wegen der besseren medizinischen Versorgung . "Das ist mein Leben", sagt Merve ohne Bitterkeit. "Ich frage nicht: Gott, warum bin ich so? Es gibt immer einen Grund."

In einer Zeitschrift hat sie von einem Mädchen gelesen, das dermaßen unter seinen krummen Beinen leidet, dass es sterben möchte, wenn es nicht operiert wird. Vielleicht, glaubt Merve, sei sie ja auf die Welt gekommen, um so jemandem zu zeigen, was die wichtigen Dinge im Leben sind: "Für das, was du jeden Tag machst, würde ich alles geben. Rausgehen ist was ganz Gewöhnliches. Und für dieses ganz Gewöhnliche würde ich alles geben."

Merve verabschiedet den Besuch an der Wohnungstür. Draußen ist längst die Sonne untergegangen, und der Mond hält sich hinter den Wolken verborgen. "Ich nutze die Nacht und reite sie, als wäre sie ein großer schwarzer Hengst", schreibt der amerikanische Autor Dean Koontz im Roman "Geschöpfe der Nacht", der aus der Perspektive eines Mondscheinkinds geschrieben ist: "Die meisten meiner Freunde behaupten, ich sei der glücklichste Mensch, den sie kennen. Ich musste die Entscheidung treffen, das Glück zu wählen oder es zurückzuweisen, und ich habe es umarmt."

© SZ vom 22.4.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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