Maßregelvollzug:"Außer wegsperren machen die nichts"

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Längst haben sie ihre Strafe verbüßt, und doch leben sie weiter in einer Zelle - jetzt entscheidet das Bundesverfassungsgericht über das Schicksal von Straftätern, die zu Sicherungsverwahrung verurteilt wurden.

Von Joachim Käppner

Wenn der Abend anbricht und die schwere Tür zum Korridor geschlossen wird, schlägt die Stunde der Freiheit für Hansi und Mausi. Gerhard Schneider öffnet den Vogelkäfig und lässt die beiden himmelblauen Sittiche heraus, dann flattern sie durch den kleinen Raum, den sie mit ihm teilen. "Das Fliegen tut ihnen gut", sagt Schneider. "Sie sollen ja nicht nur im Käfig leben."

Draußen liegt ein Hauch von Frühling in der Luft. Könnte Schneider einfach ein paar Meter hinausgehen, würde er einen sonnigen Freiburger Tag erleben: ein Ecklokal, dessen Wirt zum ersten Mal in diesem Jahr die Stühle in den Garten hinausgestellt hat.

Ehrwürdige Institutsgebäude der Universität und ein Grüppchen lachender Studenten, schöne Altbauten, zu deren Füßen ein Bach plätschert. Die alte Justizvollzugsanstalt mit ihren sternförmig angelegten Trakten und der hohen, von rasiermesserscharfem Nato-Draht gespickten Außenmauer wirkt in dieser Umgebung wie eine Festung aus einer anderen Zeit.

Und von innen scheint es, als gebe es die Stadt jenseits der Mauer gar nicht.

Es gibt sie schon gar nicht für Gerhard Schneider, der in Wirklichkeit - wie alle Gefangenen in dieser Geschichte - einen anderen Namen hat und seit vielen Jahren einsitzt.

Er gehört, nach dem Urteil der Justiz, zu den 300 gefährlichsten Straftätern Deutschlands, zu jenen, für die sich die Gefängnistore auch dann nicht geöffnet haben, nachdem sie ihre Haftstrafe abgesessen hatten.

Sie sind geblieben - in Sicherungsverwahrung. 44 von ihnen sind in Freiburg untergebracht.

Immer wieder Gewalt

Schneiders Problem war der Alkohol. "Manche gehen nach drei Bier heim", sagt er, "das hab ich nie gekonnt." Mit dem Rausch kam der Kontrollverlust.

Ein falsches Wort reichte, und die Gewalt brach aus ihm heraus, immer wieder. "Und wenn der andere so ein Bär war - das war mir egal."

Schlägereien, schwere Körperverletzung, neun Strafurteile, seit 1995 zweite Sicherungsverwahrung. Schneider ist ein drahtiger Mann und könnte als Fußballtrainer durchgehen, er treibt Sport, in seiner makellos aufgeräumten Zelle sind die Pokale aufgereiht, vor allem Siege im Tischtennis.

Jetzt ist ihm sein Partner fürs Doppel abhanden gekommen, "ein Lebenslänglicher". Der durfte irgendwann raus. Schneider blieb.

"Eigentlich ist es hier ruhig"

Jener abgetrennte Flügel der Haftanstalt, in dem die Sicherungsverwahrten des Landes Baden-Württemberg eingesperrt sind, ist kein Hochsicherheitstrakt mit Schleusen und bewaffneten Wächtern.

Tagsüber läuft der Aufsichtsbeamte Hubert Lubig durch den langgestreckten Gang mit den nummerierten Zellentüren, ein gelassener Hüne, der gern mit den Gefangenen redet und die Dinge undramatisch sieht: "Es kommt vor, dass mal einer herumschreit. Aber auf mich ist in all den Jahren niemand losgegangen. Eigentlich ist es hier ruhig."

Die Sicherungsverwahrung gilt rechtlich als "Maßregel" und nicht als Strafe - und ist faktisch doch die schlimmste Strafe, die der Staat verhängen kann. Sie sanktioniert nicht die Verbrechen, die ein Mensch begangen hat, sondern jene, die er noch begehen könnte.

Sie sorgt genau für das, was Bundeskanzler Gerhard Schröder forderte: gefährliche Täter - vor allem Sexualverbrecher - "wegzuschließen, zur Not für immer".

Erleichtert und ausgeweitet

Und sie ist, getragen und getrieben von der öffentlichen Meinung und dem Wettkampf der Parteien um die Kompetenz in der inneren Sicherheit, immer wieder erleichtert und ausgeweitet worden.

Aber an diesem Donnerstag wird das Bundesverfassungsgericht in einer ersten - und wichtigeren - von zwei Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung darüber urteilen, ob das Prinzip des Wegschließens rechtens ist.

1998 hatte noch die Regierung Kohl beschlossen, die bis dahin geltende Höchstdauer von zehn Jahren bei erstmaliger Sicherungsverwahrung auf unbestimmte Zeit zu verlängern, sollte die Gefährlichkeit eines Gefangenen dafür Anlass geben.

Für die Insassen der Sicherungsverwahrungs-Trakte verschwand der eben noch sichere Entlassungstermin, als habe es ihn nie gegeben.

Und nun herrscht im Freiburger Gefängnis ein Zustand, den Anstaltsleiter Thomas Rösch als "gespannte Erwartungshaltung" beschreibt. Sollte Karlsruhe die unbefristeten Verlängerungen als verfassungswidrig verwerfen, dann wird die Anstalt sehr bald sieben Männer gehen lassen müssen, die sonst wenig Aussicht auf die Freiheit hätten. Die zehn Jahre Sicherungsverwahrung, zu denen sie einst verurteilt wurden, sind nämlich längst abgelaufen.

Zu gefährlich

Zu ihnen gehört Harald Zimmermann, der schon sein halbes Leben hinter Gittern verbrachte. Als sich 1981 die Gefängnistore hinter Zimmermann schlossen, war Helmut Schmidt Bundeskanzler, herrschte noch der Kalte Krieg, gab es Handys nur in Science-Fiction-Filmen, war die Welt eine andere.

Zimmermann büßte für seine Verbrechen mit acht Jahren, doch heraus kam er nicht mehr. Der Staat nahm ihn anschließend in Verwahrung, weil er ihn für zu gefährlich hielt.

Und nur wenige Monate, bevor 1998 seine Entlassung nach zehn Jahren Sicherungsverwahrung anstand, trat genau das Gesetz in Kraft, über das Karlsruhe nun entscheidet und das es der Justiz im letzten Moment erlaubte, ihn auf unbestimmte Zeit hinter den Mauern der Abteilung III wegzuschließen.

Zimmermann hat den Satz des Staatsanwalts noch in den Ohren, der ihm 1981 sagte: "Wenn Sie nach zehn Jahren Sicherungsverwahrung entlassen werden, stehen Sie doch in der Blüte ihres Lebens."

Aber er wurde nicht entlassen.

Zimmermann war ein gefährlicher Mann und ist es nach Überzeugung der Strafvollstreckungskammer noch immer. Er wurde verurteilt wegen wiederholter sexueller Nötigung, Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung.

Bitterkeit

Über all das spricht er nur sehr knapp. "Aus dem Straftatenkatalog", sagt er, "fehlen mir nur drei Dinge: Mord, Totschlag und Gewalt gegen Kinder."

Jetzt ist er 48 und voller abgründiger Bitterkeit: gegen seine Familie, von der er sich verraten fühlt und die ihn fürchtet. Und gegen die Anstalt, über die er sagt: "Hier ist die Resozialisierung so klein, dass man sie gar nicht mehr sieht. Außer wegsperren machen sie nichts."

Auch Zimmermann hat in Karlsruhe geklagt, auch wenn es nicht sein Fall ist, der dort verhandelt wird. Notfalls, sagt er, "gehe ich bis zum europäischen Gerichtshof".

Hadern mit dem Schicksal

Wie Schneider ist auch Zimmermann im Gefängnis nie durch Gewalttätigkeit aufgefallen. Beide haben Therapien versucht und abgebrochen oder sind daran gescheitert. Beide fordern vergeblich neue Therapien, geben die Schuld anderen: der Anstalt, falschen Therapeuten, einer böswilligen Justiz.

Viele, die meisten wohl der hier Verwahrten, hadern mit ihrem Schicksal. Sie sind am Ende eines langen Wegs. Es gibt immer wieder einzelne, die noch den Absprung schaffen, den meisten gelingt es nicht mehr.

Der Leiter des Psychologischen Dienstes der Haftanstalt, Roger Mathonia, steht noch immer erstaunt vor dem Phänomen, "dass viele in der Sicherungsverwahrung auch nach all den Jahren noch eine fürchterliche Angst haben, sich mit sich selber zu beschäftigen".

Also tun es andere für sie. Die Anstalt, die externen Gutachter, über deren Mangel an Qualifikation derzeit so viel gestritten wird; und die Strafvollstreckungskammern, die alle zwei Jahre die Sicherungsverwahrung prüfen und fast immer bestätigen.

Von den Nazis eingeführt

Aber letztlich, sagt Mathonia, "kann niemand in die Köpfe der Insassen sehen". Und daher bleibt, wie Röschs Stellvertreter Gerhard Maurer-Hellstern meint, "bei der Sicherungsverwahrung ein unauflösbarer Zwiespalt": Weitet man sie aus, trifft sie unweigerlich auch Menschen, die draußen doch noch eine Chance gehabt hätten. Schafft man sie ab, kommen auch jene Täter frei, die sich neue Opfer suchen.

Unter Strafrechtlern hat die Sicherungsverwahrung nicht den besten Ruf, schon weil sie 1933 von den Nazis eingeführt und noch lange nach 1945 unter kräftigen Nachwehen des alten Geistes recht wahllos verhängt wurde.

Aber Rösch hält sie nach wie vor für das einzige Mittel des Rechtsstaats, die Gesellschaft vor Menschen zu schützen, die zu bessern sich als unmöglich erwies. Nicht nur einmal haben Insassen offen zu ihm gesagt: Ihr dürft mich nicht mehr rauslassen, ich schaff' das draußen nicht.

Rösch würde die Sicherungsverwahrung aber gern "entrümpeln", also beschränken auf Mörder, Vergewaltiger und andere schwere Straftäter. Noch immer aber machen Diebe, Betrüger oder Brandstifter fast ein Drittel der Verwahrten aus, darunter der freundliche und stets zu ruppigen Scherzen aufgelegte ältere Herr namens Jasper, der als Serieneinbrecher in Sicherungsverwahrung kam und in der Anstalt als so etwas wie die Verkörperung des Ganoven alten Schlages gilt.

Es sind nicht Fälle wie Jasper, die Rösch zu der Überzeugung brachten, dass die Sicherungsverwahrung sogar noch ausgeweitet werden sollte, wie es einige Bundesländer versucht haben.

Fast jeder Richter, Staatsanwalt oder Gefängnisdirektor kennt aber die "tickenden Zeitbomben", jene Männer, von denen jeder wusste, dass sie rückfällig werden.

In Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen-Anhalt und Thüringen gibt es seit kurzem die nachträgliche Sicherungsverwahrung, die verhängt werden kann, wenn erst während der Haft die Gefährlichkeit eines Gefangenen deutlich wird.

In einem zweiten Urteil am 10. Februar wird Karlsruhe über diese, in der Praxis bisher wenig wirksamen Landesgesetze entscheiden.

Thomas Rösch, der Anstaltsleiter, erinnert sich noch gut an jenen Gefangenen, der ihm noch während der Haft Rache androhte und eine Todesliste mit den Namen all jener führte, die er für sein Los verantwortlich machte.

Kaum war er entlassen, schrieb er Rösch einen Brief: "Ich gebe Ihnen hiermit die Kenntnis, dass ich bei nächster sich bietender Gelegenheit Sie und Ihre Familie liquidiere."

Rösch nahm die Drohung ernst. Der Mann verschaffte sich ein Auto und mehrere Schusswaffen. Der Polizei sagte er später, er habe sich zuerst an einem Richter rächen wollen, doch auf dem Weg zu seinem Opfer hatte er eine Reifenpanne und änderte seine Pläne: Er überfiel eine Sparkasse und nahm Kunden und Angestellte als Geiseln.

Dann forderte er fünf Millionen Euro und ein Fluchtfahrzeug, andernfalls werde er jede Stunde eine Geisel erschießen. Die Polizei konnte ihn überwältigen. Wieder in Haft, setzte er seine Drohungen fort.

Dann war da jener Sexualstraftäter, der jede Therapie verweigerte und die Anstalt nach Ablauf seiner Haftstrafe als freier Mann verließ. Kaum entlassen, entführte er eine Studentin, hielt sie mehrere Tage gefangen und vergewaltigte sein Opfer mehrmals.

Die letzte Instanz

Sollten die Karlsruher Richter unter dem Eindruck solcher Fälle die Klagen abweisen, könnte dies Zimmermann und Schneider und viele ihrer Mitinsassen zwingen, noch viele Jahre in winzigen Einzelzellen zu verbringen, in denen das Klo nur durch einen Vorhang abgetrennt und das Gitterfenster knapp unter der Decke angebracht ist.

Formal sind sie keine Strafgefangenen mehr. Wer hier gelandet ist, mag einige Vorrechte vor anderen Häftlingen haben, wie den Freizeitraum mit Tischfußballspiel, eigene Möbel und einen größeren Fernseher.

Die letzte Instanz

Aber es ist dasselbe Gefängnis, es sind die gleichen dicken Wälle, die gleichen Gitter und Stäbe. Die Insassen der Sicherungsverwahrung arbeiten in derselben Schreinerei, in denselben Werkstätten auf dem Anstaltsgelände, wo Lampen hergestellt werden oder Faller-Modellbauhäuschen, derzeit übrigens der Bausatz "Wirtshaus zur Sonne", mit ausgebranntem Dachstuhl.

Die anderen Häftlinge sehen die Verheißung der Freiheit, auch wenn sie manchmal noch fern sein mag. Der Sicherungsverwahrungs-Trakt aber ist eine Festung der Aussichtslosigkeit. Hier ist die Freiheit nur noch ein ferner Traum.

Die Sicherungsverwahrung ist so etwas wie die letzte Instanz des Rechtsstaats und verheerender Lebenswege zugleich. Für Roger Mathonia wirft das immer wieder Fragen auf, die er selbst für unlösbar hält, vor allem die nach der Gerechtigkeit angesichts der zahllosen Gutachten, Beurteilungen und naturgemäß vagen Prognosen, wer noch eine Chance haben könnte und wer nicht.

Letztlich, sagt Mathonia, sei es aber doch so: "Manche kommen hier nie wieder raus. Nur traut sich niemand, ihnen das zu sagen."

© SZ vom 5.2.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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