Liebesgeschichte, Folge 3:Ein Blick hat gereicht

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Diese neue Reihe erzählt die Liebesgeschichten von SZ-Lesern. In der dritten Folge berichtet Irene Tesseraux, wie eine Busfahrt ihr Leben verändert hat.

Von Michael Neudecker

Die schönen Momente sind noch da, sagt Irene Tesseraux, sie hat sie klar vor Augen, und das ist das Gute: "Das Traurige verblasst." Die Geschichte von Irene Tesseraux und ihrem Mann Wolf Anschütz ist einerseits die von zwei Menschen, die sich zufällig begegnen und sofort verlieben. Andererseits ist sie aber auch eine Erzählung darüber, wie das Unglück über einen herfallen kann, wie es einen fast erschlägt, aber doch nur fast.

Irene Tesseraux ist 36, als sie im November 1987 in Hamburg in einen Bus steigt, Linie 102. Sie ist gerade von Kiel hergezogen, hat eine Stelle als Biologin im Gesundheitsministerium angetreten, sie hat ein paar Beziehungen hinter sich, nichts für die Ewigkeit. Es ist eng im Bus, dann sieht sie einen großen Mann, beide tauschen Blicke aus, er drängelt sich zu ihr durch, fragt, ob man sich kenne, schreibt seinen Namen und seine Nummer auf eine Zeitung und steigt aus. Wieder zu Hause, findet sie, dass er anrufen sollte. Also nimmt sie eine dieser Meine-Adresse-hat-sich-geändert-Karten der Post, die noch vom Umzug übrig geblieben sind, setzt ihren Namen drauf, malt einen Bus mit der 102 und schreibt: "Ruf doch mal an." Die Karte geht an die Adresse, die sie im Telefonbuch hinter dem Namen und der Nummer auf ihrer Zeitung findet. Zwei Tage später ruft er an.

Es folgt ein Abendessen, und heute sagt Irene Tesseraux, sie als Naturwissenschaftlerin habe nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, aber schon im Bus, "da hat mich der Schlag getroffen, und im Restaurant wieder". Sie werden dann rasch ein Paar, und nach den Weihnachtsfeiertagen sagt er: "Ich möchte dich heiraten, ich möchte ein Kind von dir, es soll ein Mädchen sein und im Sommer Geburtstag haben." Sie kann sich an jedes Wort erinnern.

Im folgenden Sommer reisen die beiden eher zufällig ins italienische Mantua, und da, sagt Irene Tesseraux, "hat er gleich alles organisiert, die ganze Hochzeit, heimlich". Sie findet das toll, "mein Mann war immer so verrückt und spontan, das hat mir unheimlich gutgetan". Im November - ein Jahr nach der Begegnung im Bus - wird in Mantua geheiratet. Wieder ein Jahr später kommt Tochter Anna zur Welt. Die Geschichte könnte hier enden, wäre da nicht dieser Junitag im Jahr 2000 gewesen.

Wolf Anschütz und seine Frau sehen sich nur kurz an diesem Tag. Er will mit dem Fahrrad zum Ruderklub. In der Zeitung steht später: "Er hatte keine Chance." Zwei Radler kommen ihm entgegen, er fällt auf die Straße und wird von einem Auto erfasst. Wolf Anschütz stirbt mit 56 Jahren. Seine Frau ist damals 49, Anna zehn.

"Furchtbar" sei die Zeit danach gewesen, sagt Irene Tesseraux, vor allem für die Tochter. Aber sie entscheidet sich, ihre Trauer zu überwinden, um Anna ein Beispiel zu sein, "dass das Leben weitergeht, dass es schön sein kann". Eineinhalb Jahre später kommt ein Jobangebot aus Karlsruhe, sie sagt sofort zu, "ich musste weg aus Hamburg, ich sah ihn dort ja um jede Ecke kommen". Anfangs fällt es ihr schwer, den neuen Freunden ihre Geschichte zu erzählen. Aber irgendwann "hört es auf, dass man nachts davon träumt".

Sie ist nun 64, die Tochter ist 26, natürlich hat Anna Ähnlichkeiten mit dem Vater. "Schön, dass etwas von ihm in ihr weiterlebt", sagt Irene Tesseraux. Anfangs hat sie das zwar auch geschmerzt, aber heute nicht mehr. Ihre Geschichte geht ja weiter.

In dieser Reihe erzählt das SZ-Panorama die Liebesgeschichten seiner Leser. Schreiben Sie uns eine E-Mail an liebesgeschichte@sz.de, oder per Post an Süddeutsche Zeitung, Panorama, Hultschiner Straße 8, 81677 München. Wir sind gespannt.

© SZ vom 03.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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