Liebesgeschichte (18):Ein salziger Kuss

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Als Wolfgang im Keller seiner Hamburger Wohnung alte Fotos aus den Sechzigern findet, beginnt die Geschichte von ihm und Karin noch einmal von vorne. (Foto: Privat)

Karin und Wolfgang aus München und die Kraft der Erinnerung: Wie ein kurzer Moment zwischen zwei Jugendlichen 54 Jahre lang halten kann.

Von Moritz Geier

Eine Erinnerung hat den Mann hierher gebracht, und so steht er am Eingang des Prinzregentenbads in München und wartet. Er trägt einen schwarzen Mantel gegen die Herbstkälte, durch den Hochnebel fallen ein paar milde Sonnenstrahlen. Der Mann spürt die Anspannung. Er schaut sich um und sieht eine Frau im olivgrünen Parka auf der anderen Straßenseite. Sie kommt auf ihn zu. Auch sie hat eine Erinnerung hierher geführt, ein Moment nur, ein Kuss, flüchtig und kindlich, aber so prägend, dass er die Entscheidungen zweier Menschen beeinflusst hat, und zwar 54 Jahre später.

Wolfgang und Karin, beide 67, erinnern sich noch gut an diesen Moment des Wiedersehens. Sie sitzen auf einer roten Couch in seiner Münchner Wohnung und erzählen von einer sehr jungen und gleichzeitig sehr späten Liebe. Manchmal, wenn Wolfgang redet, dann kneift er die Augen zusammen, als sähe er so die Vergangenheit noch deutlicher. Die Geschichte von Wolfgang und Karin ist auch eine Geschichte über die Kraft der Erinnerung.

Sie beginnt im Juni 1960. Die Sonne brennt vom Himmel, im Freibad am Prinzregentenplatz treffen sich zwei Mädchen und zwei Jungen, alle zehn oder elf Jahre alt. Karin hat ihren Eltern nichts erzählt, aber sie verdrängt ihre Bedenken. Einer der Jungs gefällt ihr schon länger, Wolfgang, der Junge mit den braunen Haaren und dem frechen Grinsen. Die vier Kinder planschen, rennen um das Becken, schubsen sich ins Wasser. Beim Tauchen schwimmen Wolfgang und Karin aufeinander zu und küssen sich, ganz kurz, eine Mutprobe. Der zweite Kuss folgt auf dem Heimweg: Beim Friedensdenkmal über der Isar hocken die vier Kinder auf einer Bank und schicken sich gegenseitig in ein Gebüsch gegenüber. Karin und Wolfgang küssen sich noch einmal, schnell, verschämt, mit hochroten Wangen. Beide können nicht ahnen, dass dieser Augenblick der letzte gemeinsame Moment ist für sehr lange Zeit.

Am nächsten Montag kommt Wolfgang mit großen Erwartungen in die Schule, aber Karins Platz bleibt leer. Sie kommt nicht wieder. Es heißt, sie habe die Schule verlassen. Die Klassenlehrerin macht Wolfgang schwere Vorwürfe, unsittliches Verhalten, solche Dinge.

"Das war sicher kein pädagogisches Highlight", sagt Wolfgang heute. Karin hat die Folgen des Nachmittags im Freibad erst viel später rekonstruiert und begriffen. "Ich vermute, meine Eltern haben einen großen Aufstand gemacht an der Schule", sagt sie. Karins Mutter drängte ihre Tochter noch am Abend des Freibadbesuchs zu einem Geständnis, der Kuss empörte die strengen Eltern so sehr, dass sie Karin sofort auf eine andere Schule schickten.

Nach jenem Junitag verläuft das Leben für beide in getrennten Bahnen. Karin geht mit ihren Eltern nach Südamerika, kehrt nach Deutschland zurück, studiert und arbeitet in Berlin, hat einen Mann und Kinder. Sie bleibt dort, auch nachdem ihr Mann stirbt. Wolfgang studiert in München und Berlin, arbeitet in Hamburg, hat Frau und Kinder. 2014 geht er in Rente und will zurück nach München. Im Keller seiner Hamburger Wohnung sortiert er sein Leben in Umzugskisten. Er findet ein Foto aus seiner Jugendzeit, denkt an seine Mitschüler, seine Klasse und meldet sich beim Portal Stayfriends an: Rudolf-Steiner-Schule, Abiturjahrgang 1968. Am nächsten Tag hat er eine E-Mail im Postfach. Von Karin. Erinnerst du dich noch, schreibt sie, damals im Prinzregentenbad?

Glück ist der Wunsch nach Wiederholung, hat Milan Kundera geschrieben, und wenn das stimmt, erklärt das vielleicht, warum manche Erinnerungen eine solche Macht haben. An den kindlichen Kuss habe er in seinem Leben oft gedacht, sagt Wolfgang, er habe ihn immer wieder mal gespürt, sogar geschmeckt: "Er war ein bisschen salzig."

Nach Karins Mail entwickelt sich zwischen den beiden eine Freundschaft, vier Monate schreiben sie sich regelmäßig, bis sie merken, dass es mehr sein könnte als Freundschaft. Im Oktober 2014 kommt es zum ersten Treffen. Als Ort wählen sie natürlich das Prinzregentenbad, der Nostalgie wegen.

Und so umarmen sich an jenem neblig-milden Herbsttag vor dem Freibad zwei Menschen, die sich ein halbes Jahrhundert nicht gesehen haben. Sie blicken durch die Glasscheiben des Foyers des menschenleeren Freibads und sind den eigenen Erinnerungen ganz nah. Dann spazieren sie zum Friedensdenkmal. Es ist alles wie früher, auch die Bank steht noch da, mitten im Herbstlaub. Durch die kahlen Baumkronen sehen sie den goldenen Friedensengel, und küssen sich.

In dieser Reihe erzählt das SZ-Panorama die Liebesgeschichten seiner Leser. Schreiben Sie eine E-Mail an liebesgeschichte@sz.de oder einen Brief an Süddeutsche Zeitung, Panorama, Hultschiner Straße 8, 81677 München. Wir sind gespannt.

© SZ vom 28.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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