Konzept für jugendliche Gewalttäter:In der harten Schule des Respekts

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Ein ehemaliger Preisboxer nimmt sich in Hessen jugendlicher Gewalttäter an. Bei Jugendämtern und Gerichten gelten sie als die hoffnungslosen Fälle - Lothar Kannenberg versucht sie mit einem ungewöhnlichen Konzept zu retten.

Christoph Hickmann

Jeder hat hier seine Rolle. Basti zum Beispiel, 16, rechts vorn sitzt er, vor ein paar Tagen haben sie ihn zum Gruppensprecher gewählt. Oder Onur, 14, hinten links, der wie ein kleiner Gockel läuft und sich stolz die Haare auf der Oberlippe wachsen lässt.

Gewalttätige Jugendliche - ein ehemaliger Preisboxer kümmert sich um sie. (Foto: Foto: dpa)

Onur ist der Klassenclown. Noch weiter links in der Reihe sitzt Tilman, 18. Ist noch nicht lang hier, übernimmt jetzt den Part des großen Bruders, wenn es Probleme gibt. Jeder hat seine Rolle, das ist gut. Weil sie nichts zu tun hat mit dem, was war.

Basti wird in seinem Bundesland von keiner Schule mehr genommen. Im Alter von sechs Jahren trank er den ersten Alkohol, kurz danach war er süchtig, dazu kam Koks "und der ganze Rest", wie er sagt. Er hat Lehrer verprügelt und ist aus sechs Heimen geflogen.

Onur schlug den ersten Lehrer, als er in die zweite Klasse ging, später die Erzieher in den Wohngruppen. Er zog sich Speed durch die Nase, rauchte Gras, und dann war da noch die Anzeige wegen Sachbeschädigung, weil der Mann, den er verprügelte, gegen ein Auto fiel.

Tilman fing mit 13 an, Schlagringe zu benutzen, weil das die Opfer härter traf. "Die Schläge waren mein Ventil", sagt er. In guten Monaten nahm er mit Drogenhandel 10 000 Euro ein, seinem Adoptivvater brach er drei Rippen, und heute säße er im Gefängnis, wäre er nicht hier: im Lager der letzten Hoffnung.

Gegen die Wand

Ein paar Holzhäuser stehen auf dem Hang, dazwischen Kieswege. Ab und an rauscht der Lärm der Bundesstraße herauf, sonst ist es still am Rand von Diemelstadt-Rhoden in Nordhessen. Früher wurden hier Waldarbeiter ausgebildet, seit vier Monaten hängt nun an der Abzweigung der Bundesstraße ein Pfeil, auf dem steht "Trainingscamp Lothar Kannenberg".

Kannenberg ist ein ehemaliger Amateurboxer, er hat die Waldarbeiterschule gekauft, und das Land Hessen hat ihm 200 000 Euro dazugegeben, weil es Hoffnung in ihn setzt: Kannenberg soll Jugendliche in die Gesellschaft zurückholen. Sie alle sind von der Schule befreit, sie bleiben ein halbes Jahr. Es ist der letzte Rückweg, den man ihnen offenhält.

Es ist neun Uhr morgens, der Tag hat um sechs begonnen: 45 Minuten Frühsport, Betten machen, frühstücken, unter Aufsicht Zähne putzen, Verhaltenstraining. Jetzt stehen sie im Hof, 18 Jugendliche, männlich, 14 bis 19 Jahre alt, in blau-schwarzen Trainingsanzügen. Ein paar lassen die Hände in den Taschen verschwinden, es ist kühl.

"Hände aus den Taschen!", schreit der Mann vor ihnen, um seinen Hals hängt eine Trillerpfeife. Er ist Respekttrainer, so heißen hier die Betreuer. Er pfeift, "Abmarsch", und die Jungen trotten zu einem der Holzhäuser. Drinnen stellen sie sich im Kreis neben den Boxring. Pfiff, 20 Liegestütze.

Einer ruft: "Eins!", die anderen brüllen "Und!", drücken sich vom Boden hoch, lassen sich absinken. Bei "15!" kommt Sören nicht mehr hoch. Sören isst gerne viel, was bleibt ihm auch, hier hat er den Alkohol nicht mehr, den er täglich trank, bis nichts mehr ging. "Was ist das denn?", schreit der Trainer. Pause. Pfiff, 20 Liegestütze, Pause. Bis die 100 voll sind, dann geht es zurück, 20 Runden ums Haus. Danach Hofputz.

Szenen wie diese kannte man bisher nicht aus Einrichtungen der deutschen Jugendhilfe. Sie erinnern an die Armee oder an die Bootcamps in den USA, wo Jugendliche durch Drill zurechtgebogen werden sollen. Und klingt das Prinzip nicht zu simpel? Ein halbes Jahr Disziplin, und alles wird gut. Das hört sich an, als wolle man einen reißenden Fluss schlicht dadurch kontrollieren, dass man ihn in ein künstliches Bett zwängt.

Andererseits: Was will eine Gesellschaft denn tun mit einem wie Patrick, 15, im Gesicht die Haut eines Kindes, dazu die Figur eines Preisboxers? Als er vier war, gaben ihn die Eltern ins Heim. Mit acht die ersten Diebstähle, mit zehn der erste Joint.

In sechs Pflegefamilien war er, in 20 Heimen, dann auf Teneriffa, Eins-zu-eins-Maßnahme heißt so etwas in der Fachsprache. Ein Betreuer fuhr mit Patrick hin, er sollte etwas Positives erleben. Dort aber räumte er Appartements aus, kam an Kokain und brach mit seinen Fäusten Nasen, Kiefer und Rippen. Er sagt: "In anderen Heimen kannst du ja machen, was du willst. Da hab' ich die Erzieher halt gegen die Wand geboxt."

Lothar Kannenberg kennt diese Geschichten. In ein paar Tagen wird er 50, er ist kräftig, hat ein rotes Gesicht und eine breite Nase, der man ansieht, dass sie harte Schläge abbekommen hat. Er sagt: "Die deutsche Jugendhilfe, die vor 30 Jahren entwickelt worden ist, war für die damalige Zeit supergut. Aber Kuschelpädagogik, das klappt nicht mehr."

Man muss sich Kannenbergs Lebensgeschichte anhören, um seinen Ansatz zu verstehen: acht Jahre Volksschule, Amateurboxer, Türsteher im Frankfurter Bahnhofsmilieu, Drogensucht. Er durchschaut die Jungen, weil er sich durchschaut hat.

Das war, als der Krebs in seinen Lymphdrüsen wucherte. Es folgten Chemotherapie, Psychiatrie, Drogentherapie. Kannenberg wollte etwas tun, wurde Streetworker in Kassel, fand dort eine alte Fabrikhalle, gründete sein erstes Boxcamp. Er sagt: "Ich nehm' die Jugendlichen, die am Boden liegen, und stell' sie wieder auf die Füße."

Druck und klare Regeln

Die meisten hier säßen im Jugendgefängnis, hätten sie nicht Richter und Jugendämter aus allen Teilen Deutschlands hergeschickt. Drogendelikte, versuchter Totschlag, so ziemlich alles außer Mord. "Wir haben hier 22 mal die Nummer eins beim örtlichen Jugendamt'', sagt er.

22 Fälle, die als nicht mehr kontrollierbar gelten, mit keiner Methode der Pädagogik, die ohnehin seit Jahren vor einem Problem steht: Die Gewalt unter Jugendlichen nimmt zwar zahlenmäßig nicht zu, dafür aber wird sie härter.

Kannenbergs Rezept besteht neben dem Sport aus Aufarbeitung, Druck und klaren Regeln: Auf Verstöße folgen Strafen, etwa Extrarunden um die Hütte. Nach ein paar Wochen sind die Jungen dann bereit für das wichtigste Ritual im Camp: Sie begraben die Vergangenheit, buchstäblich. Einen Joint, Abzeichen, Bilder von Hanfpflanzen.

Respekttraining hat Kannenberg sein Rezept genannt, und weil sie hier viel boxen, um ihre Kraft zu kontrollieren, heißt sein Trägerverein "Durchboxen im Leben". Pädagogen und Kriminologen halten Kannenberg gern Unprofessionalität vor, und einiges ist sicher gewöhnungsbedürftig.

So ließ er ein RTLII-Fernsehteam für ein paar Wochen ins Camp. Daraus wurde eine Doku-Soap, allerdings eine, die selbst solchen Formaten wenig zugetane Kritiker seriös nannten. Kannenberg selbst sagt: "Ich geh' den Weg, den ich für richtig halte."

Es ist aber nicht so, dass da ein ehemaliger Türsteher tut, was er gerade für richtig hält. An seiner Seite hat er Fachleute, etwa eine pädagogische Leiterin. Dazu kommen ehemalige Schützlinge, einst selbst straffällig.

Christian Pfeiffer, der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, hält von solchen Konzepten nicht viel, doch selbst er meint, dass so etwas im Fall von Drogenmissbrauch Sinn macht: "Mitarbeiter, die selbst Erfahrungen mit Drogen haben, erkennen viel schneller, wenn die Jugendlichen rückfällig werden. Sie kennen die spezifischen Ausreden und die Schleichwege des Drogenschmuggels."

Der Hamburger Kriminologieprofessor Jens Weidner wiederum nennt das Konzept, ehemalige Straftäter mit aktuellen arbeiten zu lassen, "für die Jugendlichen absolut glaubwürdig". Was das heißt, sieht man, wenn die Jungen vor Kannenberg sitzen, den sie Lothar nennen. Er sieht jedem einzeln in die Augen. Es ist dann still, selbst der Klassenclown Onur schweigt.

Um das Camp gibt es keinen Zaun. Doch die Jugendlichen bleiben, oder sie kommen zurück. So wie Edi, der es vor einer Woche nicht mehr aushielt, davonlief und nun doch wieder auf dem Hof steht, weil er wohl weiß, dass er hier etwas hat, was all die Jahre fehlte: eine Art Gerüst.

Hier aber liegt das größte Problem: Im Camp gibt es dieses Gerüst, draußen nicht. Im Camp gibt es für die Jugendlichen die Möglichkeit, an sich zu arbeiten, doch an ihrem Umfeld wird nicht gearbeitet.

Christian Pfeiffer sagt: "Konzepte, bei denen man die Jugendlichen aus ihrem normalen Kontext herauslöst, können keinen Erfolg haben. Man kann nicht den Alltag für ein halbes Jahr ausblenden und Besserung erwarten." Das wäre in etwa so, als rettete ein Arzt den Alkoholiker kurz vor der Leberzirrhose, um ihn danach wieder an seinen Arbeitsplatz im Schnapsgeschäft zurückzuschicken.

Andererseits: Bleibt der Trinker die ganze Zeit im Schnapsgeschäft, macht eine Behandlung wohl noch weniger Sinn. So sieht es Jens Weidner: "Sie kriegen diese Jungs gar nicht, wenn diese in ihrem normalen Umfeld bleiben. Man muss sie da herauslösen."

Über dieses Problem kann man wohl lange streiten. Bei manchen gehören zu diesem Umfeld schlicht die falschen Freunde, bei manchen haben auch die Eltern ein Drogenproblem. Und manche haben keine Eltern mehr, so wie Manuel.

Seine Handknöchel sind geschwollen, weil die Wut wieder hochkam in dieser Woche, so beißend, dass er mit den Fäusten gegen die Wand schlug. Zumindest schlägt er nicht mehr in Gesichter, so wie er es täglich tat, als er noch draußen war. Einmal schlug er den Kopf eines Jungen auf den Bordstein, neunmal, zehnmal.

Es ist kurz nach acht, die Gruppe sitzt im Stuhlkreis. Manuel hat den Trainingsanzug abgelegt, er trägt Jeans. "Ich hau ab", hat er gesagt. Kannenberg steht auf, Manuel auch, sie gehen in den Kreis. Manuel mit dem breiten Kreuz, dessen Kraft sie hier fürchten, lehnt sich an Kannenberg.

Er weint. Er wimmert. Kannenberg, der so laut brüllen kann, der sie Liegestütze machen lässt, wenn sie nicht spuren, hält ihn im Arm. Dann sagt er: "Der Manuel braucht die Gruppe jetzt." Sie fassen sich an den Schultern, dann schreien sie dreimal: "Wir schaffen es!"

Es gibt dieses Ritual ein paar Mal am Tag: Wir schaffen das. Und alles, was danach kommt. Aber was kommt danach? Basti wird eine Drogentherapie beginnen, weil er das jetzt will. Onur geht zurück zu den Eltern, er will den Hauptschulabschluss machen.

Manche wechseln in betreute Wohngruppen, manche in Heime. Mit dem geregelten Tag ist es dann meist vorbei, und bisher blieb nur die Hoffnung, dass genügend hängenbleibt aus diesem halben Jahr. Die Hoffnung ist vage, das weiß auch Kannenberg.

Er versucht, die Kontakte zu halten, so gut es geht, doch je mehr Jugendliche er betreut, desto schwieriger wird das. Er wird deshalb im Sommer seine eigene Nachsorgeeinrichtung eröffnen. 15 Plätze soll es geben, die Jungen sollen dort bis zum Schulabschluss geführt werden.

Kinder mit zu viel Kraft

Man weiß nicht, wer von ihnen es schaffen wird. Vor drei Jahren eröffnete Kannenberg bei Kassel den Vorläufer des heutigen Camps. Nur 20 Prozent der Jungen wurden nach seinen Angaben bisher rückfällig, was eine traumhafte Zahl wäre, verglichen mit beinahe 80 Prozent aller Täter, die nach dem Jugendgefängnis rückfällig werden.

Solide ausgewertet wurde das bisher allerdings nicht, wie überhaupt das ganze Projekt noch nicht wissenschaftlich überprüft worden ist. Über den Erfolg lässt sich deshalb wenig Verlässliches sagen. Doch im Camp denkt man da ohnehin anders. "Ist denn nicht jeder den Einsatz wert?", fragt ein Trainer. "Letztlich sind es ja Kinder."

Es sind Kinder mit tiefen Stimmen und der Kraft von Männern, die zu kontrollieren ihnen niemand beigebracht hat. Über ihren Betten in den Zweierzimmern hängen Poster mit nackten Frauen, Helden des Hip-Hop, Fotos der Freundin. Bei Oliver, 16, hängen Fotos seiner Mutter, vor der er schon mit dem Baseballschläger stand.

Es sind Kinder, vor deren Gewalt man sich fürchten muss, und dennoch lassen sie sich noch formen. Das haben auch konservative Landesregierungen verstanden, ihre Gesetzentwürfe für den Jugendstrafvollzug fallen derzeit vergleichsweise fortschrittlich aus. Sie haben begriffen, dass man Jugendliche nicht einfach wegsperren und darauf warten kann, dass die Einsicht kommt.

Samstagnachmittag, Überlebenstraining im Wald, jeder trägt einen Holzbalken. Kannenberg schreit: "Ihr sollt euch quälen!" Nach anderthalb Stunden stehen sie im Kreis, sie fassen sich an den Händen.

"Dreht euch!", ruft Kannenberg, und der Kreis dreht sich, "Schneller! Keiner lässt los, keiner lässt los! Ihr seid wichtig!", und sie werden schneller, sie schlingern, taumeln, stolpern. Dann ist es vorbei, Kannenberg pfeift, sie stehen. Der Kreis hat gehalten.

© SZ vom 3.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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