Kindsmörderinnen:"Dumpfe und passive Sinnenwesen"

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Nach den Kindsmorden in Brandenburg entwickeln Politiker gern Aktionismus und wollen beispielsweise anonyme Geburten regeln. Juristen scheitern bereits seit Jahrhunderten daran, Mütter die ihre Kinder töten adäquat zu bestrafen. Es bleibt Fassungslosigkeit.

Von Heribert Prantl

Welches sind die besten Mittel, dem Kindesmorde Einhalt zu tun?" Das war die Preisfrage eines wissenschaftlichen Wettbewerbs im Jahre 1780. 400 Arbeiten wurden eingereicht. Die bedeutendste unter ihnen blieb ungekrönt - die Arbeit des großen schweizerischen Pädagogen und Sozialreformers Johann Heinrich Pestalozzi. Er versuchte, die Ursachen für ein Verbrechen zu ergründen, über das damals, wie über kein anderes, leidenschaftlich gestritten wurde: die Ermordung eines neugeborenen Kindes durch die Mutter.

Babyklappen ermöglichen die anonyme Geburt und sollen so dem Kindsmord vorbeugen. (Foto: Foto: ddp)

Damals waren entwurzelte und verstädterte Landmädchen - den dörflichen Bindungen enthoben und an städtische Ansprüche gewöhnt, in das Leben der Oberschicht halb einbezogen und halb von ihm ausgeschlossen - die wehrlosesten Opfer der Verführung. Sie waren, schreibt der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch in seiner Strafrechtsgeschichte, "die vorherbestimmten Kindesmörderinnen".

Kindsmord war eine Folge der geschlechtlichen Ausbeutung der Unterschicht durch die Oberschicht, Hauptmotiv des Kindsmords die Furcht vor der Schande der unehelichen Mutterschaft - die damals von einer unverständigen Rechtsordnung noch gemehrt wurde.

Lasterstein und Hurenkarren

Die uneheliche Mutter, die ihre Schwangerschaft verborgen und das Kind heimlich zur Welt gebracht hatte, musste schon wegen "verheimlichter Schwangerschaft" Strafe gewärtigen. Und schon wegen des unehelichen Geschlechtsverkehrs waren die Frauen "Hurenstrafen" demütigendster Art ausgesetzt: Sie mussten einen "Lasterstein" tragen, den "Hurenkarren" ziehen, in lächerlichem Aufputz die Gasse kehren; oft wurden sie des Landes verwiesen.

All diese Strafen, auch die "Säckung" (das Ertränken der Kindesmörderin im Sack) oder ihre Enthauptung, wurden begründet mit der Häufigkeit des Verbrechens. "Wieder einmal begegnet uns die schon so oft festgestellte Tatsache, dass Strafen, mit denen man das Verbrechen bekämpfen wollte, sich verbrechensfördernd ausgewirkt haben", kommentierte Gustav Radbruch.

Zahlen über den "Infantizid" in historischer Zeit gibt es nicht. Friedrich der Große war der erste Herrscher, der sich um Milderungen bei den Strafen bemühte: In einem Brief an Voltaire musste er 1777 bekennen, dass noch immer die Mehrheit der Mordtaten Kindsmorde seien. Der Bewusstseinswandel dauerte lange.

Gesellschaftliches Randphänomen

Soziale Fürsorge, Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch und zuletzt die Reform des Abtreibungsrechts haben die Kindstötung zu einem gesellschaftlichen Randphänomen gemacht, das statistisch gar nicht mehr erfasst wird - zumal es den Sondertatbestand der Kindestötung seit dem 6. Strafrechtsreformgesetz von 1998 nicht mehr gibt.

Dieser Paragraf 217 a Strafgesetzbuch alter Fassung bestrafte die Tötung des nichtehelichen Kindes während oder unmittelbar nach der Geburt durch die Mutter mit einer Mindestfreiheitsstrafe von drei Jahren; minder schwere Fälle hatten den Strafrahmen von sechs Monaten bis zu drei Jahren.

Nach heute geltendem Recht wird die Kindestötung mit der Anwendung des minder schweren Falls des Totschlags bestraft. Den Täterinnen droht Haft von einem Jahr bis zu zehn Jahren.

In den vergangenen Jahren sind spektakuläre Einzelfälle bekannt geworden. In einem Fall, in dem das Gericht der Mutter, einem Au-Pair-Mädchen, einen Intelligenzquotienten an der Grenze zur Debilität bescheinigte, wurde in München eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt.

Es bleibt Fassungslosigkeit

Vor drei Jahren gab es Debatten über Massen-Gentests nach einer Kindstötung: Bei Kelheim war der Leichnam eines Neugeborenen entdeckt worden. Die Polizei forderte 1300 Frauen auf, eine Speichelprobe abzugeben. Allen Fällen gemeinsam bleibt die öffentliche Fassungslosigkeit.

Angesichts des aktuellen Falles einer neunfachen Kindstötung sagt die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU), sie fühle sich in ihrem Ziel bestätigt, anonyme Geburten gesetzlich zu regeln und so auch Schwangere in Extremsituationen mit Hilfsangeboten zu erreichen.

Eine Änderung der Strafgesetze erscheine ihr hier nicht hilfreich. Der Fall zeige auch, "dass wir in der Gesellschaft wieder dazu kommen müssen, Anonymität und Gleichgültigkeit zu durchbrechen".

Über die Motive, über den Geisteszustand der mutmaßlichen Kindstöterin in Brandenburg werden die Gerichte befinden. Vielleicht wird die Erkenntnis dort keine andere sein, als sie vor sechzig Jahren Gustav Radbruch gefunden hat - der von den "dumpfen und passiven Sinnenwesen" schrieb, "welche unentschlossen alles gehenlassend sich plötzlich rat- und kopflos durch die Geburt überrascht sehen und instinktiv das Nächstliegende tun, nämlich gleichsam Notwehr üben gegen die feindlich sich in ihr Leben drängende Frucht, die Ursache aller ihnen drohenden Schwierigkeiten und Nöte".

© SZ vom 3. August 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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