"Kindergefängnis" auf Jersey:Der Kerker des Grauens

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Die britische Polizei hat in einem ehemaligen Kinderheim auf Jersey fünf Kinderleichen entdeckt. Für Mordermittlungen ist es trotzdem zu spät.

Wolfgang Koydl, London

Es ist eine grauenerregende Geschichte, wie sie sich Charles Dickens in einem seiner dunkleren Romane hätte ausdenken können: Ein graues, furchteinflößendes Gemäuer hoch über einer Klippe auf einer Insel, wo Kinder mehr verwahrt als versorgt werden. Sie sind verwaist oder von ihren Eltern verstoßen, mithin die einsamsten und unglücklichsten aller Kinder. In diesem Heim werden sie gequält, geschlagen und gefoltert. Und einige werden getötet.

Vier unterirdische Kellerverliese, die von früheren Insassen des Heimes als "Strafzellen" beschrieben wurden: Kinderheim Haut de la Garenne. (Foto: Foto: dpa)

Doch die Geschichte trug sich nicht im viktorianischen England von Dickens zu, sondern am Ende des 20. Jahrhunderts: Die Polizei auf der Kanalinsel Jersey ist sich nun sicher, dass sie in den versteckten Kellerverliesen des ehemaligen Waisen- und Kinderheimes Haut de la Garenne die verkohlten Überreste von mindestens fünf Kindern gefunden hat. Sie waren zwischen vier und elf Jahre alt und vermutlich Opfer des systematischen Missbrauchs geworden, der Jahrzehnte lang in dem Heim stattfand.

Die niederschmetterndste Nachricht freilich bewahrte sich Jerseys stellvertretender Polizeichef Lenny Harper bis zum Schluss auf. Denn die Morde werden seiner Meinung nach aller Voraussicht nach ungesühnt bleiben: "Letzten Endes könnte es aussehen, als ob wir nicht genügend Beweise haben werden, um Mordermittlungen mit dem Ziel aufzunehmen, jemanden für die Verbrechen, die hier verübt wurden, zur Rechenschaft zu ziehen", erklärte er in einem Interview mit der BBC. Die Beweise reichten jedoch aus, um die Berichte über Missbrauch "substantiell zu bekräftigen".

65 Milchzähne

Das Problem der Ermittler liegt nach den Worten Harpers darin, dass sich die gefundenen Überreste - Milchzähne und Knochenfragmente - nicht präzise genug datieren lassen, um auf dieser Basis tätig werden zu können. "So wie es aussieht, werden wir keinen exakten Todeszeitpunkt erfahren", erklärte Harper. Eine erste Radiokohlenstoffdatierung konnte nur einen ungefähren Zeitrahmen zwischen den späten sechziger und den frühen siebziger Jahren definieren. Da Knochen und Zähne Schnittmarkierungen aufwiesen und teilweise verkohlt waren, geht die Polizei von einer Gewalttat aus, die vertuscht werden sollte.

Insgesamt haben die Behörden 65 Milchzähne und mehr als 100 Knochenfragmente gefunden, seit sie im vergangenen Februar mit ihren Untersuchungen in Haut de la Garenne begannen. Im Zuge ihrer Ermittlungen hob die Polizei vier unterirdische Kellerverliese aus, die von früheren Insassen des Heimes als "Strafzellen" beschrieben worden waren. In diesem Räumen entdeckten die Ermittler Fußfesseln und eine mit Blut verkrustete Wanne. An einen Holzpfosten waren die ominösen Worte gekritzelt: "Ich war Jahre und Jahre lang ungezogen." Im Laufe der letzten Monate haben sich Dutzende von Männern und Frauen gemeldet, die als Kinder in Haut de la Garenne waren und von Misshandlungen berichteten.

Die Polizei geht 97 konkreten Vorwürfen nach, in denen von Schlägen, Vergewaltigungen und Folterungen die Rede ist. Mehr als 100 Verdächtige wurden registriert und teilweise verhört; gegen drei Männer wurde Anklage wegen sexuellen Missbrauches Minderjähriger erhoben.

Verschleierungsversuche

Harpers Erklärungen haben mittlerweile Vorwürfe wiederbelebt, dass die politische und wirtschaftliche Elite der Insel die Vorfälle in dem Kinderheim vertuschen wolle. Der liberaldemokratische Unterhausabgeordnete John Hemmings, der das Thema mit der britischen Regierung erörtern will, hat nach eigenen Worten "keinen Zweifel" an einem Verschleierungsversuch. "Es ist klar, dass es fünf Fälle gibt mit genügend Beweismaterial für eine Strafverfolgung, bei denen aber diese Verfolgung aus irgendwelchen Gründen gestoppt worden ist", erklärte Hemmings.

Ähnlich hatte sich schon zuvor der ehemalige Gesundheitsminister von Jersey, Stuart Syvret, geäußert. Er hatte die Insel einen "geheimniskrämerischen Ein-Parteien-Staat" genannt, in dem die Regierung nur unzureichend kontrolliert werde. Jersey ist weder Teil des Vereinigten Königreiches noch der Europäischen Union und verabschiedet in seinem eigenen Parlament seine eigenen Gesetze.

© SZ vom 01.08.2008/grc - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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