Kinderbetreuung:Die ganz große Krippenkoalition

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Familienministerin Ursula von der Leyen machte sich die SPD-Idee zu eigen: mehr Betreuung für Kleinkinder. Mit erstaunlichem Erfolg. Neue Familienpolitik dank Großer Koalition.

Mancher Politiker würde nach einem solchen Erfolg vielleicht innehalten. Die Parteisitzung im Kreisverband schwänzen. Den Brunello aus dem Keller holen. Den Flieger nach Südfrankreich buchen und drei Tage im Ferienhaus verschwinden. Nicht so Ursula von der Leyen.

Familienministerin Ursula von der Leyen hat große Pläne: Bis 2013 will sie 500.000 zusätzliche Krippenplätze schaffen. (Foto: Foto: dpa)

Zwar war sie stolz und zufrieden, als der deutsche Staat im Januar 2007 zum ersten Mal das neue Elterngeld auszahlte: Solche Reformen hatten vor ihr nur wenige Familienministerinnen durchsetzen können. Doch rastlos peilte sie das nächste Projekt an. Schon am 8. Februar forderte die CDU-Politikerin in der Süddeutschen Zeitung, dass der Staat jährlich drei Milliarden Euro für Krippen und Tagesmütter ausgeben soll: "Bis spätestens 2013 muss es zusätzlich 500 000 Betreuungsplätze geben." Damit könnten 35 Prozent aller Kinder unter drei Jahren versorgt werden.

Eine unverschämte Forderung. Denn Ursula von der Leyen war für das Thema überhaupt nicht zuständig. Wie viele Kindergärten und Krippen es in Deutschland gibt, regeln Kommunen und Länder. Die Bundesministerin konnte sich noch nicht einmal auf politische Wunschlisten wie den Koalitionsvertrag berufen: Darin taucht das Wort "Kinderkrippen" gar nicht auf.

Ausbau der Kinderkrippen: ein Irrweg?

Im Februar hatte sie freilich erfahren, dass die SPD beim Thema Kinderbetreuung einen Vorstoß plante - also preschte sie vor. Das sicherte ihr die ersten Schlagzeilen und verhinderte eine Blockbildung nach bekanntem Muster: Hier die Sozialdemokraten, die im Interesse der weiblichen Emanzipation den Ausbau der Kinderbetreuung fordern, dort die Traditionalisten der Union, die die klassische Arbeitsteilung in den Familien bewahren wollen.

In den ersten Tagen zeigte sich bereits, wie richtig das Kalkül der Ministerin war. Die SPD applaudierte, die CDU signalisierte großenteils Wohlwollen. Selbst aus der CSU, die Kinderkrippen lange Zeit als "sozialistischen Irrweg" abgelehnt hatte, kamen Zeichen der Zustimmung. "Der Plan ist konsequent und logisch", lobte etwa deren familienpolitischer Sprecher Johannes Singhammer.

Schon nach wenigen Tagen und zahllosen Interviews von Bundes-, Landes- und Kommunalpolitikern in sämtlichen Medien hatte sich die Szenerie sortiert. Kaum ein Politiker hatte grundsätzliche Einwände gegen das Ziel, die Krippen auszubauen; nur über Weg und Finanzierung wurde gestritten.

Bereits Anfang April trafen sich die 16 zuständigen Länder-Minister mit Ursula von der Leyen zum "Krippengipfel". Sie einigten sich, bis zum Jahr 2013 das Betreuungsangebot auf europäisches Niveau anzuheben - also auf jene 35 Prozent-Marke, mit der die Bundesfamilienministerin die Debatte ausgelöst hatte. Ein Ziel, das wenige Monate vorher in der Bundesrepublik vollkommen unrealistisch gewirkt hätte, war schon nach zweimonatiger Diskussion politischer Konsens. Eine ganz große Koalition der familienpolitischen Modernisierer war entstanden.

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Krippengegner ernten Empörung

Allmählich artikulierten sich natürlich auch die Krippengegner. So warf der Augsburger Bischof Walter Mixa der Bundesfamilienministerin vor, sie wolle Frauen zu "Gebärmaschinen" degradieren. Sein polemisches Argument feuerte die Debatte enorm an - allerdings erntete er mehr Empörung als Zustimmung. Nicht einmal im Lager der CSU fand Mixa viele Unterstützer.

Die bayerische Sozialministerin Christa Stewens etwa ging auf Distanz: Ein langer Ausstieg aus dem Beruf berge für junge Mütter das Risiko, bei Hartz-IV zu landen, weshalb der Ausbau der Krippen sinnvoll sei. Allerdings nahm die CSU die konservativen Warnrufe immerhin so ernst, dass sie auf eine Ergänzung drängte: Familien, die ihre Kinder ausschließlich selbst betreuen wollten, müssten dafür finanziell entschädigt werden. Das "Betreuungsgeld" war erfunden.

Fortan drifteten Debatte und Gesetzgebung weit auseinander. In Talkshows und Streitgesprächen erregte sich ständig jemand, zum Beispiel die ehemalige Tagesschau-Sprecherin Eva Herman (für das Betreuungsgeld), die Lafontaine-Ehefrau Christa Müller (ebenfalls dafür) oder die grüne Parteivorsitzende Claudia Roth (strikt dagegen). Gleichzeitig aber, in relativer Stille, verhandelten die Fachpolitiker von Bund und Ländern, wie sich der Krippenausbau realisieren lasse. Das ging zwar nicht ohne Feilschen um die notwendigen Millionen, doch letztlich lief alles vergleichsweise geschmeidig. Schon im August stand der Kompromiss fest: Der Bund zahlt bis 2013 vier Milliarden Euro, den Rest übernehmen Länder und Kommunen. Offen blieb eigentlich nur eines: was aus dem Betreuungsgeld wird. Doch weil es frühestens 2013 gezahlt werden soll, kann diese Debatte noch ein paar Jahre weiterlaufen.

Die Bilanz nach dem Jahr der deutschen Krippendebatte: Der Staat verabschiedete sich von seiner familienpolitischen Zurückhaltung, mit der er früher vor allem Geld verteilte und (außer bei dramatischen Problemen) den Eltern alles weitere überließ.

Der Lebensentwurf, den eine große Mehrheit der Politiker unterstützt, setzt auf die Erwerbstätigkeit von Müttern - deshalb der Ausbau der Krippen, aber auch die Korrekturen des Unterhaltsrechts, die im November 2007 beschlossen wurden. Dass dies nur bei einer Minderheit der Deutschen auf Widerstand stößt, deutet darauf hin, dass sich die neue Familienpolitik mit den Wünschen vieler - vor allem der gut ausgebildeten Frauen - deckt.

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