Kinder-Mord in Liverpool:Die bewaffneten Kinder von Crocky

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Tödliche Schüsse auf einen elfjährigen Jungen in Liverpool erschüttern Großbritannien: Die Eltern trauern und die Polizisten versuchen, die Hintergründe der Tat herauszufinden - doch noch schweigen viele aus Angst vor den Gangs.

Wolfgang Koydl

Die neue Schuluniform hängt im Kleiderschrank, die glänzenden Schuhe stecken noch im Karton: Im Kinderzimmer von Rhys Jones war alles vorbereitet für den ersten Tag des neuen Schuljahres. Doch der Platz des Elfjährigen in der Emmaus-Grundschule in Liverpool wird leer bleiben, wenn seine Schulkameraden aus den Ferien zurückkommen. Rhys ist tot - kaltblütig erschossen von einem Unbekannten, von dem man annimmt, dass auch er fast noch ein Kind war.

Die Tat hat Großbritannien bis ins Mark erschüttert. Jeder konnte mitfühlen, als Rhys' Eltern Stephen und Melanie mit tränenerstickter Stimme an die Menschen in der Nachbarschaft appellierten, den Mörder nicht zu decken.

Appelle der Mutter

"Bitte, irgendjemand irgendwo muss wissen, wer das getan hat", flehte die 41-jährige Mutter, in deren Armen Rhys auf dem Asphalt eines Parkplatzes vor dem Fir Tree Pub verblutet war. "Es muss jemand aus der Sozialsiedlung sein. Bitte meldet euch. Das nächste Mal könnte es euer Sohn, euer Bruder sein."

Die Nachbarschaft, von der Melanie Jones sprach, waren nicht die schmucken Einfamilienhäuser mit den gepflegten Vorgärten und den Mazdas und Toyotas in der Einfahrt, wo Rhys aufwuchs. Die Croxteth Park Estate von Liverpool ist eine gutbürgerliche Gegend, in der es keine Gewalttaten, keine betrunkenen und randalierenden Banden gibt.

Die findet man in den verwahrlosten Wohnsilos der Croxteth Estate, von den Einheimischen kurz Crocky genannt. Vernagelte Fensterhöhlen, Müllhaufen, herumlungernde Banden, Drogen - Crocky erinnert eher an einen Drittweltslum als an eine Großstadt in einem der reichsten Staaten Europas. Und Crocky liegt nur ein paar hundert Meter entfernt von den properen Bürgerhäuschen, wo die Jones leben, gleich hinter einem Feld und einem kleinen Wäldchen.

Mit dem Fahrrad braucht man nur ein paar Minuten, um von der einen in die andere Welt zu gelangen, und auch der Mörder war mit einem Rad gekommen. Lautlos war er auf einem schicken BMX-Rad unterwegs. Augenzeugen beschrieben ihn als jung, nicht älter als 13 bis 15 Jahre. Bis auf die weißen Turnschuhe war er schwarz gekleidet - mit einem Kapuzen-Sweatshirt, so wie sie unzählige gelangweilte, arbeits- und perspektivlose Jugendliche in Großbritannien gleichsam zu ihrer Uniform erwählt haben.

Der Junge hatte angehalten, dann hatte er einen Revolver oder eine Pistole hervorgezogen und seelenruhig auf Rhys und seine beiden Freunde gezielt, die auf dem Parkplatz einen Fußball hin- und herkickten. Der erste Schuss zertrümmerte die Scheibe eines geparkten BMW, der zweite ging ins Leere, der dritte traf Rhys von hinten in den Nacken.

Mauer des Schweigens

Die Merseyside Police hat mehr als einhundert Beamte für die Jagd auf den Täter abgestellt. Inzwischen hat die Polizei Tausende Flugblätter mit der Bitte um sachdienliche Hinweise verteilt. Sie können auch anonym gegeben werden, denn die Behörden sind nicht weltfremd: Sie wissen, welche Angst Jugendbanden in Vierteln wie Croxteth verbreiten können. Die Mauer des Schweigens, hinter der sich Täter verstecken, erscheint mitunter unbezwingbar.

Rätselraten herrscht über ein mögliches Motiv des Mörders. Die Deutungsversuche reichen von tödlichen Schüssen "just for fun" bis hin zu der Überlegung, dass der Täter sein Opfer mit einem anderen Jungen verwechselt haben könnte. Die grausigste Theorie geht von einem Initiations-Mord aus, mit dem ein neues Mitglied sich die Aufnahme in eine Gang erkauft haben könnte.

Jüngere Opfer, jüngere Täter

Rhys gehörte keiner Bande an, und allein die Tatsache, dass dieser Umstand immer wieder betont wird, müsste die britische Gesellschaft eigentlich frösteln lassen. Denn es bedeutet, dass man es nicht mehr für ungewöhnlich hält, dass ein Kind von elf Jahren in die kriminellen Aktivitäten einer Gang verstrickt sein könnte.

Tatsächlich werden Täter und Opfer der Gewalt in Britannien von Jahr zu Jahr immer jünger. Und immer mehr Drogendealer schicken bevorzugt Kinder los, damit sie Heroin und andere Gifte auf der Straße verkaufen. Paul Breen lebt in Croxteth und hat mehrere Bücher über Jugendkriminalität verfasst. Er ist alles andere als überrascht über den Mord an Rhys Jones, und er ist überzeugt, dass es nicht der letzte Mord sein wird.

"Es wird nicht lange dauern, bevor sie (ihre Waffen) mit in die Schule nehmen", sagte er der Londoner Times. Alles hänge mit den Drogen und den jugendlichen Dealern zusammen. "Die Kids haben mehr Geld in der Tasche als ihre Eltern. Sie kaufen Waffen von bester Qualität, und die Polizei steckt den Kopf in den Sand."

Bislang hatte man sich im Vereinigten Königreich in der Sicherheit gewiegt, die eines der striktesten Schusswaffenkontrollgesetze der Welt zu versprechen schien. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit gerieten jedoch immer mehr Schusswaffen in Britanniens Unterwelt in Umlauf. Hochburgen sind neben London vor allem Liverpool und Manchester.

Dort kann man eine abgesägte Schrotflinte für weniger als umgerechnet 100 Euro, eine Pistole für etwas mehr als 200 Euro auf der Straße kaufen. Vor allem Jugendbanden, die einander blutige Kämpfe liefern, rüsten auf. Ein unlängst auf der Website von YouTube gepostetes Video zeigte, wie vermummte Jugendliche stolz ihr Arsenal herzeigten. Der Streifen begann mit der Aufnahme eines Ortsschildes: City of Liverpool, Croxteth.

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