Kinder in Deutschland:Chronologie einer Verwahrlosung

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Bremen, Stadtteil Gröpelingen: Wie Sozialarbeiter versuchten, zwei Kinder aus einer Problemfamilie zu schützen.

Felix Berth

Vor zwei Wochen wurden im Bremer Stadtteil Gröpelingen zwei verwahrloste Kinder gefunden. Die Polizei holte die Mädchen, die fünf und acht Jahre alt sind, aus einer vermüllten Kellerwohnung, nachdem sie Beamten auf der Straße aufgefallen waren. Sie leben mittlerweile in einem Kinderheim. Ungewöhnlich war weniger der Fall - mehr als 3000 vernachlässigte Kinder werden pro Jahr aus ihren Familien geholt -, als vielmehr die Informationspolitik der Behörden: Die Polizei informierte sofort die Öffentlichkeit. Seitdem diskutiert in Bremen auch die Politik, ob es Parallelen zum Fall Kevin gibt, der im Jahr 2006 im selben Stadtteil gestorben war.

Eine Wohnung wie eine Müllhalde: In dieser Kellerwohnung lebten die beiden Mädchen, die vor zwei Wochen von der Bremer Polizei aufgegriffen wurden. (Foto: Foto: dpa)

Gestern nun präsentierte die Bremer Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter ihre Chronologie der Ereignisse. Das Dokument spiegelt zwar die Sicht der Behörde wider, doch es eignet sich durchaus, um einen Fall zu beschreiben, in dem diverse Institutionen offenbar passabel zusammengearbeitet haben.

Juni 2004: Polizisten sehen bei einer Verkehrskontrolle ein Mädchen, das äußerst ungepflegt aussieht. Sie informieren das Jugendamt. Sozialarbeiter besuchen die Familie wenige Tage später. Sie sehen, dass die Wohnung zu vermüllen droht. Ihr Angebot: Die Behörde schickt eine "sozialpädagogische Familienhilfe". Mehrere Stunden pro Woche kommt ein Sozialarbeiter vorbei und versucht, die Eltern zu unterstützen: Welche Kleider für die Kinder sind angemessen, welche Hygieneregeln sind sinnvoll? Die Eltern akzeptieren das Angebot, haben aber, wie ein Familienrichter später feststellt, "wenig Problembewusstsein".

In den nächsten vier Jahren bleibt die Familie Thema im Jugendamt. Zwei Mitarbeiter bearbeiten den Fall, damit keine Lücken entstehen. Mit dem Kindergarten und der Schule vereinbaren sie, dass sie informiert werden, wenn die Kinder fehlen oder auffallen. Zehn solche Meldungen - aus der Kita, der Schule, vom Vermieter und von Nachbarn - wird es in den nächsten Jahren geben; meist geht es um mangelnde Hygiene.

In den vier Jahren wird die Familie engmaschig betreut. Die Familienhelfer sind präsent, soweit die Eltern dies zulassen. Psychologen eines Krisendienstes werden eingesetzt; die Mitarbeiter der Sozialbehörde schauen insgesamt fünf Mal in der Wohnung vorbei. Beim letzten Mal im Oktober 2007 erteilt ihnen der Vater allerdings Hausverbot und lehnt weitere Hilfen ab.

Eine Woche später versuchen die Beamten, die Kinder aus der Familie herauszuholen. Das Gericht lehnt den Antrag ab: Das Kindeswohl sei nicht gefährdet. Die Mädchen, die im Sportverein seien und Flötenunterricht bekämen, seien "interessiert, aufgeschlossen, selbstbewusst und sozial adäquat handelnd", so das Urteil. Abgesehen von Äußerlichkeiten bestehe kein Anlass zu Sorge.

Die Polizei greift die Kinder auf

Drei Monate später, nach weiteren Meldungen von Polizei und Nachbarn, versuchen es die Sozialarbeiter erneut. Als die Richter wieder kein Urteil erlassen, gibt die Behörde den juristischen Weg auf. Gleichzeitig versuchen die Behörden, die Familie weiterzubetreuen. Das gelingt nur kurzzeitig, denn im März 2008 weisen die Eltern alle Hilfen zurück. Das Amt findet sich damit ab, versucht aber, durch Kindergarten und Schule weiter über mögliche Probleme der Kinder informiert zu werden.

Bis zur letzten Schulwoche scheint die Lage unverändert zu sein. In den Ferien, in denen die Kontrolle durch Kita und Schule entfällt, stellen Polizisten bei einem Routineeinsatz fest, dass das ältere Mädchen mit seinen verfilzten Haaren und der übelriechenden Kleidung verwahrlost aussieht: Am 16. Juli um 10.48 Uhr greifen sie die Kinder auf.

© SZ vom 30.07.2008/imm - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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