Justizexperte Maelicke:"Es wird immer Extremsituationen geben"

Lesezeit: 2 min

Der Experte Bernd Maelicke spricht über die Mängel des Jugendstrafvollzugs - und warum weiterhin mit Exzessen zu rechnen ist.

Dirk Graalmann

Bernd Maelicke ist Experte für Strafvollzug in Deutschland. Der 66-jährige Honorarprofessor der Uni Lüneburg war von 1990 bis 2005 Ministerialdirigent im Justizministerium Schleswig-Holsteins. Er leitet das Institut für Sozialwirtschaft.

Der Justizexperte Bernd Maelicke (Foto: Foto: oh)

SZ: Herr Maelicke, der "Fall Siegburg" hat die Öffentlichkeit erschüttert. Steht auch die Fachwelt fassungslos vor solchen Gewaltsexzessen?

Bernd Maelicke: Ein Fall wie in Siegburg kann jederzeit in jeder deutschen Justizvollzugsanstalt wieder passieren. Bei einem Strafvollzug mit dem Grundprinzip der Isolation wird es immer Extremsituationen geben. Strafvollzug ist Stress, und die strukturelle Gewalt ist untrennbar damit verbunden.

SZ: Wie kann man der Gewalt begegnen?

Maelicke: Priorität hat die Einzelunterbringung von jugendlichen Gefangenen über Nacht. Das ist absolute Pflicht, ein Grundgesetz.

SZ: In Nordrhein-Westfalen wird das nun gesetzlich verankert.

Maelicke: Der Entwurf von NRW geht in diesem Punkt tatsächlich sehr weit. In den meisten anderen Ländern bleiben die Regelungen unverbindlich. Auch, weil sie dann angesichts der derzeitigen Überbelegungen viele neue Haftplätze schaffen müssten. In Bayern zum Beispiel können weiterhin bis zu acht Personen gemeinsam untergebracht werden.

SZ: In der Kritik stehen auch die langen Einschlusszeiten.

Maelicke: Das ist auch ein neuralgischer Punkt, insbesondere am Wochenende. Da arbeiten die Anstalten mit reduzierter Personalbesetzung, da fehlen zumeist externe Kräfte. Wenn am Samstagmorgen schon das Abendessen mit ausgeliefert wird und dann passiert 24 Stunden nichts, ist das höchst problematisch.

SZ: Das gilt auch für die fehlenden Freizeitangebote...

Maelicke: Die meisten Jugendlichen haben schon in Freiheit Probleme, ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten. Wie soll es da ohne Hilfe im Strafvollzug funktionieren? Das kann nicht klappen.

SZ: Eine der Maßnahmen ist der Ausbau des offenen Vollzugs und mehr Wohngruppen.

Maelicke: Ja, aber auch in diesem Fall bleiben die Bestimmungen vage. Eine Wohngruppe etwa kann da bis zu zwanzig Personen umfassen. Aber mit 20 Leuten haben sie keine Wohngruppe, sondern einen umetikettierten Großgruppenvollzug.

SZ: Haben wir also einen reinen Verwahrvollzug, wie Kritiker behaupten?

Maelicke: So weit würde ich nicht gehen.Unser Jugendstrafvollzug ist schon besser als in vielen europäischen Ländern. Aber alle Praktiker und Experten wissen: Es könnte viel besser sein. Die neuen Ländergesetze sind weitestgehend die Fortschreibung des Status quo, das ist keine echte Reform. Diese Chance wurde verpasst.

SZ: Was hätte denn für Sie im Zentrum einer Reform stehen müssen?

Maelicke: Das Allerwichtigste ist die Gestaltung des Übergangs in die Freiheit, die durchgehende Betreuung, die nicht am Tag der Entlassung endet. Die kritischste Phase sind die ersten sechs Monate nach der Haft. Da müssen wir Jugendliche professionell betreuen, mit Schuldnerberatung, Begleitung bei der Arbeitssuche, Bewährungshilfe. Optimal wäre ein fester Ansprechpartner.

SZ: Einige Länder setzen andere Schwerpunkte. Die bayerische Landesregierung zum Beispiel hat in ihrem Entwurf nicht den Erziehungsauftrag, sondern die Sicherheit als erstes Ziel genannt.

Maelicke: Das ist ein populistischer Akt, der nur auf Außenwirkung bedacht ist. An der Praxis in Bayern wird das nichts ändern, aber es erschwert die notwendige öffentliche Debatte über die grundsätzliche Resozialisierungsausrichtung des Vollzugs. Es ist ein fatales Signal.

© SZ vom 1.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: