10. Jahrestag der Katastrophe von Eschede:Das Ende der Sicherheit

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Zehn Jahre ICE-Unglück von Eschede: Als Reaktion auf die Katastrophe überarbeitete die Deutsche Bahn ihre Technik - ein Schuldeingeständnis gibt es bis heute nicht.

Dominik Hutter

Der Fahrplan hat sich kaum verändert: Noch immer verlässt um kurz nach halb elf Uhr der ICE München-Hamburg die Stadt Hannover, rollt nordostwärts gen Celle und passiert gegen elf Uhr die Brücke der Rebberlaher Straße im kleinen Heideort Eschede. ICE 886 heißt der Zug inzwischen, und die meisten Fahrgäste werden bei Tempo 200 gar nicht recht mitbekommen, welche Stelle sie da gerade befahren.

Hunderte von Helfern suchen nach dem Unglück bei Eschede nach Überlebenden in den Trümmern (Archivbild) (Foto: Foto: dpa)

Heute erinnern 101 Kirschbäume an die 101 Todesopfer des schlimmsten Unglücks, das sich jemals mit einem Hochgeschwindigkeitszug ereignet hat. Am Dienstag ist es zehn Jahre her, dass der damals noch "Wilhelm Conrad Röntgen" genannte ICE 884 entgleiste. Der 3. Juni 1998, das räumt selbst die Deutsche Bahn ein, ist eine Zäsur in der Eisenbahngeschichte - der Tag, an dem der schnelle Schienenverkehr den Nimbus beinahe absoluter Sicherheit einbüßte.

Tatsächlich war nach Eschede nichts mehr wie vorher. Die Bahn stellte ihre Sicherheitsphilosophie auf den Prüfstand, neue Methoden der Kontrolle und Gegenkontrolle in den Werkstätten wurden entwickelt. Techniker entfernten den verhängnisvollen Radtyp, dessen Versagen der wesentliche Auslöser des Unfalls war, aus sämtlichen Zügen. Die jetzigen Radsätze müssen turnusgemäß mit modernen Ultraschallgeräten auf Schäden untersucht werden - 1998, vor dem Start von ICE 884, hatte man sich im ICE-Werk München den Ermittlungen zufolge mit einer einfachen Sichtprüfung zufriedengegeben.

"Es ist wirklich viel unternommen worden", urteilt Stephan Freudenstein, Inhaber des Lehrstuhls für Verkehrswegebau an der Technischen Universität München. Selbst die Streckenplaner müssen heute mit geänderten Vorgaben arbeiten: Es gilt, Weichen in Brückennähe zu vermeiden.

Dieser Katalog an Maßnahmen zeigt, wie viele verschiedene Ursachen die Katastrophe von Eschede hatte. Hätte nur ein Glied in der sprichwörtlichen "Verkettung unglücklicher Umstände" gefehlt, wäre vielleicht jener 3.Juni für die 300 Insassen des Zugs anders verlaufen. Damals aber reihte sich eins ans andere, bis es schließlich zum Unfall kam, bei dem 101 Menschen starben und 88 schwer verletzt wurden.

Den Beginn dieser verhängnisvollen Kette markiert eine Entscheidung des Bahnvorstands, die schon damals einige Zeit zurücklag: Um den Fahrgästen mehr Ruhe in den Waggons zu gönnen, wurden die bislang aus einem einzigen Stahlblock gefertigten Räder des ICE durch gummigefederte Radreifen ersetzt. Die Ermittler stellten später fest, dass diese Technologie, die ursprünglich von der Straßenbahn stammt, für den Hochgeschwindigkeitsverkehr noch nicht ausreichend getestet war.

Den Prüfern im Werk München war jedoch bekannt, dass mit einem Rad am Wagen 1 des ICE 884 etwas nicht stimmte. Achtmal schon hatten Zugbegleiter einen unruhigen Lauf des Drehgestells moniert. Untersuchungen in der Werkstatt ergaben schließlich, dass das Rad stark abgefahren und somit als schadhaft einzustufen ist. Konsequenzen wurden aus dieser Erkenntnis nicht gezogen, und so rollten Waggon und Rad zurück in den Münchner Hauptbahnhof und schließlich als ICE884 nordwärts. Bahn-Mitarbeiter erklärten später bei Vernehmungen, ein derart verschlissener Radreifen habe allenfalls als Komfort-, nicht als Sicherheitsproblem gegolten.

Was den Prüfern völlig entging, war ein ohne technische Hilfsmittel nicht erkennbarer Riss, der letztlich dazu führten, dass der Radreifen kurz hinter Celle zerbrach. Dabei wickelte sich die Lauffläche ab und durchbohrte mit großer Wucht den Boden des Waggons. Das blieb natürlich nicht unbemerkt. Ein Passagier informierte einen Zugbegleiter, der allerdings das Abteil nicht mehr rechtzeitig erreichte. Auf die Idee, die Notbremse zu ziehen, kam niemand - auch wenn das die Katastrophe möglicherweise verhindert hätte: Zwischen der Stelle, an der der Radreifen brach, und dem Unglücksort liegen noch mehr als fünf Kilometer.

Und so raste der Zug weiter durch die Heidelandschaft, das tonnenschwere Geschoss blieb zunächst in der Spur. Noch immer hätte das Ganze glimpflich ausgehen können - gäbe es nicht auf Höhe Eschede eine Weichenverbindung und kurz später eine pfeilergestützte Brücke.

Verurteilt wurde niemand

Der ICE begann zu entgleisen, als das im Waggonboden feststeckende Stahlteil des Radreifens kurz vor elf Uhr gegen die Weiche schlug. Danach ging alles sehr schnell: Der vordere Teil des Zuges kam gerade noch unter der Brücke hindurch, dann rammte ein schlingernder Waggon den Pfeiler und brachte die Konstruktion zum Einsturz. Wagen 5 wurde unter der tonnenschweren Last begraben, der Rest des Zuges faltete sich hinter der unüberwindlichen Barriere wie ein Zollstock zusammen.

Verurteilt wurde niemand für die Katastrophe von Eschede - eine Situation, die die damals Verletzten sowie die Hinterbliebenen bis heute belastet. Das Landgericht Lüneburg stellte das Verfahren gegen drei Ingenieure im Mai 2003 gegen Zahlung einer Geldbuße ein. Die Bahn hat nach eigenen Angaben mehr als 35 Millionen Euro an die Opfer oder ihre Angehörigen überwiesen. Viele Betroffene vermissen jedoch nach wie vor ein ehrliches Schuldeingeständnis der Bahn, die scheinbar bis heute Schwierigkeiten hat, mit dem Makel Eschede umzugehen.

So beklagt der Dokumentarfilmer Raymond Ley, der den ARD-Film "Eschede Zug 884" gedreht hat, die Auskunftsunwilligkeit des Konzerns, der nicht einmal zu Interviews bereit gewesen sei. Offenkundig reicht die Macht der DB sogar bis in die Hochschulen hinein. Mehrere Verkehrswissenschaftler lehnten Gesprächswünsche der SZ zum Thema Eschede ab - um die Forschung und deren Finanzierung nicht zu gefährden.

© SZ vom 02.06.2008/aho - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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