Internet:Gefährliche Freunde aus dem Chatroom

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Sechs Hildesheimer Schüler stehen vor Gericht, weil sie eine 13-Jährige mehrfach vergewaltigt haben - den Kontakt hatten sie im Internet hergestellt.

Von Arne Boecker

Die Öffentlichkeit ist ausgeschlossen, wenn von diesem Donnerstag an sechs Jugendliche auf der Anklagebank des Amtsgerichts Hildesheim sitzen. Sie sollen ein 13-jähriges Mädchen im Hildesheimer Stadtteil Drispenstedt mehrfach sexuell missbraucht haben.

Erpressung mit Handyfotos

Die Tat allein ist schon erschreckend, die Vorgeschichte dazu erschüttert noch mehr und offenbart eine Welt, die für Richter, Verteidiger und Staatsanwälte alles andere als juristischer Alltag ist: Einer der Jungen hatte über einen Chatroom im Internet die Bekanntschaft des Mädchens gemacht. Gleich beim ersten Treffen soll die Gruppe über die 13-Jährige hergefallen sein.

Zwischen 14 und 17 Jahre alt sind die Hildesheimer Schüler, die das Mädchen laut Anklage über mehrere Wochen gequält haben. Fünf Mal sollen sie die Schülerin aus Niedersachsen vergewaltigt haben. Sie taten das "gemeinschaftlich bei wechselnder Zusammensetzung" der Gruppe, so steht es in der Klageschrift.

Die Jungen machten die 13-Jährige demnach gefügig, indem sie drohten, Fotos der ersten Vergewaltigung zu veröffentlichen, die sie mit dem Handy geschossen hatten. Wenn die Schülerin zur Polizei gehe, werde sie nirgends vor ihnen sicher sein, sollen die Jungen gedroht haben. Sie räumen ein, was die Klage "sexuelle Handlungen" nennt, bestreiten aber, Gewalt angewendet oder gedroht zu haben.

Drispenstedt statt Internet

In Chatrooms können sich Wildfremde über Banales und Abseitiges austauschen, entweder in der Gruppe oder im Zwiegespräch. In so einem anonymen Forum plauderte die 13-jährige Hildesheimerin mit einem der Jungen - bis sie den Fehler beging, die Bekanntschaft aus der virtuellen in die reale Welt zu verlagern. Drispenstedt statt Internet: Für das Mädchen war es ein Schritt in den Abgrund.

Der Kölner Verein "Zartbitter", der gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern kämpft, mahnt seit langem, dass sich in Chatrooms Sexualstraftäter tummeln. "Dieser Fall bestätigt unsere Erfahrungen", sagt Ursula Enders, Vorsitzende des Vereins. "Zartbitter" hat im Kölner Raum Workshops in 20 Schulklassen abgehalten, um Art und Ausmaß des Phänomens auszuloten. Das Resultat fasst Enders so zusammen: Viele Jugendliche klicken sich zu den Räumen durch, um "sexuelle und verbale Aggressionen auszuleben".

Beschimpfungen sind üblich, auch wenn Chatter sie oft als Scherze deklarieren. Schülerköpfe werden auf Körper montiert, die von Pornoseiten stammen. Die Chatrooms sind auch Brutstätten für Intrigen. Wer sein Passwort verrät, muss damit rechnen, dass unter seinem Namen Obszönitäten ins Netz gestellt werden. "Irgendwann machen sich alle zur Sau oder labern sich mit Sauereien zu", sagt einer der Siebtklässler, denen "Zartbitter" über die Schulter geschaut hat.

Sexualstraftäter auf Opfersuche

Vieles von dem, was in den Chatrooms geschrieben wird, ist schlicht geschmacklos. Gefährlich kann es zudem werden, wenn die Kontakte auf das richtige Leben ausgeweitet werden - wie im Fall der Hildesheimer Jugendlichen. An diesem Fall ist allein das Alter der Täter außergewöhnlich.

Denn oft streifen erwachsene Sexualstraftäter durch die Chatrooms. Nach ein bisschen Geplänkel versuchen sie, Adressen oder Handynummern der Internetfreunde herauszukriegen. Dass so etwas böse enden kann, beweisen Missbrauchsfälle aus Köln und Augsburg. Beide Male hatten Erwachsene Kinder im Internet kontaktiert und zu Treffen überredet, bei denen es zum Missbrauch kam.

In dem Maße, in dem sich der Zugang zum Internet ausgebreitet hat, ist auch die Zahl der Chatrooms angestiegen. An den Schulen des Rheinlands, die "Zartbitter" besucht hat, finden 90 Prozent der Schüler problemlos ins Internet, entweder in Schulpausen oder zu Hause. Ein Drittel sucht gezielt Chatrooms auf. Für Jugendliche stellt es offenbar einen ungeheuren Reiz dar, eine Figur samt Name, Hobby und Aussehen modellieren zu können, die oft wenig mit der zu tun hat, die sie im echten Leben darstellen. Auf den Visitenkarten, die als Entree zu den Chatrooms gelten, ist jedenfalls von Pickeln und Zahnspangen nicht die Rede.

In der virtuellen Welt gebe es "keine sozialen Kontrollen", wie sie im Idealfall Eltern oder Lehrer ausübten, sagt Ursula Enders. Sie fordert daher Väter und Mütter auf, sich mit ihren Kindern in die Chatrooms einzuloggen. Die Workshops von "Zartbitter" widerlegen zudem die Vermutung, dass Jungen im Internet nur Ballerspiele ansteuern, während sich Mädchen direkt in Chatrooms begeben. Fast die Hälfte der Chatter, die "Zartbitter" beobachtet hat, waren Jungen.

© SZ vom 7.7.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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