Haftanstalten:Frischzellenkur

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In den Niederlanden sinkt die Zahl der Häftlinge, 27 Gefängnisse sind überflüssig geworden. Was also tun mit den Bauten? Man kann dort speisen, wohnen, studieren - oder sich einfach mal einsperren lassen.

Von Laura Hertreiter

Alpaca schwitzt. In wenigen Minuten wird alles vorbei sein, aber das weiß er noch nicht. Einen Moment lang, so wird er später erzählen, vergisst er sogar, dass das hier je zu Ende sein wird, sein Herz trommelt wie ein Basketball auf Turnhallenboden. Sein Blick flattert zu den anderen, sie haben angefangen, sich zeitlupenlangsam aus der orangen Sträflingskleidung zu schälen. Ist das der Weg in die Freiheit? Oder direkt in die Isolationszelle?

Alpaca wischt mit dem Unterarm über die Stirn. Soll er? Der Spanier neben ihm hebt die schmalen Schultern, probiert ein Grinsen, alles easy, alles nur ein Spiel, aber das Grinsen erlischt, als das Gebrüll des Zweimetermanns noch einmal zwischen den Kellerwänden scheppert. "Los, los, los, raus aus den Klamotten, oder wollt ihr in diesem Knast verrotten?" Alpaca knöpft seinen Haftanzug auf.

Es ist ein opulentes, bizarres Spiel, das in dem alten Gefängnis im niederländischen Breda jede Woche vor sich geht. Bis zu 350 Menschen lassen sich dort gleichzeitig in die Zellen sperren, in denen bis vor vier Jahren noch echte Straftäter untergebracht wurden. Das frühere Borschpoort-Gefängnis ist heute ein Grenzerfahrungsspielplatz. 80 Statisten erleichtern oder erschweren den Spielern den Weg zurück in die Freiheit, sie spielen Mithäftlinge, Knastpersonal oder Anwälte, etwa drei Stunden lang. Wer geschickt, klug oder skrupellos genug ist, kommt raus, ansonsten endet das Spiel, wie es begonnen hat: in Gefangenschaft. Drei Dinge nur weiß man vorher: Mindestalter 18, Ticketkosten 80 Euro, und dass man mit dem Codewort "Exit" aussteigen kann aus jener merkwürdigen Mischung aus Erwachsenenspiel, Theater, Massenperformance und Architekturerlebnis. Was tatsächlich vorkommt, trotzt der 80 Euro Eintritt - weil das Spiel sich für manche zu echt anfühlt.

Der Spaß kostet 80 Euro, angebrüllt und zu Liegestützen verdonnert werden inklusive

Aufseher mit Uniformen und Schlagstöcken entreißen dem Besucher gleich nach der Ankunft an der Gefängnismauer Ticket und Identität. Klappe halten, Zweierreihe, Einheitskleidung, zackzack, Blick zum Boden, Taschen ins Schließfach. Dann laufen Hunderte Menschen aus aller Welt in müllabfuhrfarbenen Anzügen durch die Katakomben unter dem Gefängnis, die Spielernamen in Filzstiftschrift auf Schilder ans Revers geklemmt. "Warum sind Sie hier?", blafft ein Aufseher den belgischen Musicaldarsteller an, dessen Anzug sich dramatisch spannt. Grinsen, Schulterzucken. "Ich wollte mal das Gefängnis von innen sehen?" "Das sagen sie alle", brüllt der Aufseher. "Warum zur Hölle sind Sie hier?"

Alle Augenpaare richten sich auf ihn, linealgerade aufgereiht stehen sie alle da, langsam verstummend, die Blicke gesenkt. "Raub", sagt der Belgier leise. Das Spiel hat noch nicht einmal richtig begonnen, da ist der Musicalsänger schon Alpaca.

In den vergangenen Jahren sind Escape Games, bei denen sich Menschen in Räume einsperren lassen, um durch das Lösen von Rätseln und Aufgaben in Freiheit zu gelangen, enorm beliebt geworden, Anbieter gibt es in jeder europäischen Großstadt. Aber das, was in Breda passiert, ist anders. Die Wucht der schieren Masse an Teilnehmern und Statisten, die Authentizität der Kulisse - all das fügt diesem Fluchtspiel die Dimension eines sozialen Experiments hinzu. Beunruhigend schnell werden aus interessierten Besuchern verschreckte Häftlinge, aus Betrachtern Akteure. Und dann ist da noch die Wucht des Ortes.

Das 1886 gebaute Gefängnis ist der in Stein gemauerte Glaube daran, dass sich der Mensch unter permanenter Überwachung sozial angepasst verhält. Über dem zentralen Gefängnishof spannt sich eine gewaltige Kuppel, unter der sich Hunderte rostige Zellentüren auf vier Ebenen rundum aneinanderreihen. Darunter liegt die Kantine, einsehbar unter Glasboden. Als die Hunderten aus den Katakomben unter der Kuppel ankommen, droht das Spiel einen Moment lang zu kippen. Staunendes Gemurmel, gereckte Hälse, was für ein Bau! Bis der Gefängnisdirektor sie alle mit einer Ansprache und den angeordneten Liegestützen zurück in die Häftlingsrollen holt. Dann sperrt er jeweils zwei bis drei von ihnen in winzige Zellen. Wenn alle wirklich schweigen, beginnt das eigentliche Spiel.

Nur: Wo sind eigentlich die richtigen Häftlinge von Breda?

Sie fehlen nicht nur hier. Der monumentale Kuppelbau ist eine von 27 Vollzugsanstalten in den Niederlanden, die seit 2014 wegen sinkender Kriminalitätsraten und neuer Konzepte im Strafvollzug geschlossen wurden. Während deutsche Städte mit überfüllten Gefängnissen kämpfen, richten die Niederländer dort Spielplätze ein.

Anruf beim Ministerium für Sicherheit und Justiz in Den Haag. Ein freundlicher Sprecher sagt, dass die Häftlinge ausgehen, liege an einem Rückgang der Kriminalität. Die aber sinke auch im Rest der Europäischen Union. Entscheidender sei also wohl eher, dass niederländische Richter immer seltener Haftstrafen erlassen, "wenn bei der Tat nicht direkt ein Opfer involviert ist". Raubüberfälle etwa würden meist mit alternativen Strafen wie Sozialstunden oder angeordneten Rehabilitationsmaßnahmen belegt, während in Deutschland selbst Schwarzfahrer im Knast landen können und die Zellen überfüllt sind.

Die niederländische Regierung aber musste Ideen entwickeln, um die überflüssig gewordenen Haftanstalten anderweitig zu füllen. Im Jahr 2011 wurden deshalb erstmals 550 Häftlinge aus Belgien in ein niederländisches Gefängnis bei Tilburg verlegt. Die belgische Regierung mietet dafür ein ganzes Gebäude, für 42 Millionen Euro im Jahr. 2015 folgte Norwegen: Platz für 240 Häftlinge in Norgerhaven, 25 Millionen Euro Jahresmiete.

Hunderte lassen sich freiwillig einsperren, Touristen, Familien, Bürogemeinschaften

In einem ehemaligen Frauengefängnis in Zwolle ist heute ein preisgekröntes Restaurant, eine Anstalt in Amsterdam Overamstel soll in ein Wohnviertel mit Tausenden Wohnungen umgebaut werden, und ein Gefängnis in Haarlem soll bald als Universitätsgebäude seine Tore öffnen. Und in Breda, aber auch in einem leer stehenden Knast in Rotterdam, spielen die Menschen Haft. Jede Woche kommen Hunderte Touristen, Bürobelegschaften, Familien und, wie die Veranstalter erzählen, Sicherheits- und Wachleute, die sich für die als besonders authentisch geltenden Bedingungen des Spiels interessieren.

Der belgische Musicalsänger alias Alpaca findet sich nach den Liegestützen in einer Zelle wieder, mit zwei anderen Häftlingen. Vielleicht Spieler, vielleicht Komparsen, wer weiß? Sie schweigen eine Weile, wie man es ihnen befohlen hat. Irgendwann erst beginnen sie leise zu reden. Wer hier wohl mal gefangen war? Wie klein das ist, und es riecht nach Moder. Geflüsterte Worte, damit der Wärter vor der Zellentür nicht brüllt. Ach ja, die Tür: Ist die überhaupt zu?

© SZ vom 09.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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