Grubenunglück in Russland:Stille im Korridor der Hoffnung

Lesezeit: 2 min

Nach zwei Tagen in eisiger Kälte unter Tage sind nun 33 der in Südrussland verschütteten Kumpel gerettet worden - von 13 weiteren Vermissten fehlt allerdings noch jede Spur. Das Drama im Schacht zeigt die Brüchigkeit des Systems.

Von Tomas Avenarius

(SZ vom 27.10.2003) Moskau, 26. Oktober - Seit Tagen sitzen sie nun schon da und beten für die da unten. Falls sie am Sonntag überhaupt noch am Leben waren, jene 13 russischen Bergleute, 800 Meter unter Tage. Der bärtige Pope in seinem goldenen Gewand sang seine Liturgie vor der Unglücksgrube Sapadnaja, Angehörige und Freunde hielten Kerzen und bekreuzigten sich. Keiner wollte die Hoffnung aufgeben am Sonntag Abend für die letzten 13 der 46 Kohlekumpel, die nach einem Wassereinbruch in die Kohlegrube nahe der südrussischen Stadt Rostow-am-Don seit drei Tagen in dem Stollen eingeschlossen waren.

Ein Helfer mit einem geretteten Bergmann. (Foto: Foto: dpa)

Am Samstag nämlich geschah ein Wunder: 33 völlig erschöpfte Bergleute waren zwei Tage nach der Grubenkatastrophe gefunden und in einem Notlift nach oben gebracht worden. Froschmänner waren durch den überfluteten Stollen getaucht und hatten die in der eisig-feuchten Kälte ausharrende Gruppe in einem trockenen Seitenschacht entdeckt. Als die erschöpften Männer aus dem Schacht gebracht worden waren, schob einer die angebotene Tragbahre beiseite und umarmte seine Retter: "Danke, dass ihr uns gerettet habt."

Von der zweiten Gruppe, zu der der Bergwerksdirektor und sein Vize gehören, will man zwar noch Notsignale aufgefangen haben, doch am Sonntag war zwar noch viel von Hoffnung die Rede, nichts mehr aber von neuen Signalen. Die Wassermassen eines riesigen unterirdischen Sees hatten sich am Donnerstagabend in den Stollen ergossen, bis zu 50000 Kubikmeter Wasser pro Stunde sollen es gewesen sein. Unter dem enormen Druck brach eine Sicherheitswand aus Beton ein, das Wasser flutete den Hauptstollen.

Der Luftdruck vor der Flutwelle bewegte sich mit 30 Metern pro Sekunde durch den Stollen. "Plötzlich standen wir bis zum Hals im Wasser. Manche riss es sofort von den Beinen", sagte der gerettete Bergmann Konstantin Doroschenko. Der Strom fiel aus, Beleuchtung und Ausstiegslifte lagen still. 25 der insgesamt 71 Kumpels hatten sich retten können. Die anderen 46 blieben unter Tage eingeschlossen.

Unten gruben sie mit Spaten und Bohrmaschinen, oben schütteten sie Hunderte von Tonnen Gestein und Erde in den Unglücksschacht, um so den Wassereinbruch zu stoppen - bis jetzt erfolglos. Den Verbindungstunnel, den sie von einem Nachbarschacht aus gruben, nannten sie den Korridor der Hoffnung. Denn die Hoffnung blieb, obwohl Sonntag Nachmittag erst knapp zwei Drittel der insgesamt 56 Stollen-Meter durch das Gestein gebrochen worden waren. Während die Retter noch nach Vermissten suchten, eröffnete der Rostower Staatsanwalt bereits ein Strafverfahren gegen die Bergwerkseigner Rostow-Ugol und Rus-Ugol.

Denn das Unglück kam nicht überraschend, die Bedrohung durch den unterirdischen See war der Leitung des vor dem Zweiten Weltkrieg eröffneten Bergwerkes bekannt. Im Februar war der damals vorübergehend stillliegende Stollen schon einmal geflutet worden. Dann war er dennoch wieder in Betrieb genommen und wirksame Sicherheitsmaßnahmen nicht in den Weg geleitet worden.

Das, was in Sapadnaja geschehen ist, ist auf erschreckende Art normal in der Kohleindustrie Russlands. Die früher staatliche Bergwerksindustrie liegt seit dem Ende der UdSSR danieder. Die Stollen sind in einem erbärmlichen Zustand, die Arbeitsbedingungen kriminell.

Nach Angaben der russischen Bergarbeitergesellschaft starben allein im letzten Jahr 68 Kohlekumpel unter Tage, im Jahr davor 91. Die undurchsichtigen Aktiengesellschaften, die die ex-sowjetischen Gruben vom Staat erworben haben, investieren nicht ausreichend, sondern beuten aus, was noch auszubeuten ist an Kohle. Moderne Sicherheits- und Rettungstechnik wird nicht gekauft, stillgelegte Schächte und unterirdische Wasserblasen wie in Sapadnaja werden nicht gesichert.

Und das, obwohl Russland laut der Zeitung Iswestija von internationalen Organisationen 1,3 Milliarden Dollar für die Kohleindustrie erhalten hat. Angeblich hatten die Sapadnaja-Kumpels ihre letzte Lohntüte im März erhalten, für warme Arbeitskleidung mussten sie selbst sorgen. Sie wussten um die miserable Sicherheitslage im Schacht. Ausweg aber sahen sie keinen - eine andere Arbeit finden die Männer in dieser Region nicht.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: