Großbritannien:Angst vor dem eigenen Nachwuchs

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Britische Forscher warnen vor einem neuen Gesellschaftsproblem: Im Land wächst die Pädophobie - die Furcht vor Minderjährigen.

Wolfgang Koydl

Alltag in den Städten: Jugendliche randalieren auf der Straße und pöbeln Passanten an, bevor sie ihre Aufmerksamkeit einer Bushaltestelle zuwenden und diese mit Faustschlägen und Fußtritten demolieren. Wer ist nicht schon selbst Zeuge einer solchen Szene geworden - und mit abgewendetem Blick vorbei gehastet.

In Großbritannien jedoch scheinen weit mehr Menschen Konfrontationen mit Hooligans aus dem Wege zu gehen als in jedem anderen Land Europas: Die Briten haben Angst vor dem eigenen Nachwuchs, und es gibt auch schon einen wissenschaftlichen Begriff dafür - Pädophobie, die Furcht vor Kindern.

Zu dem Ergebnis kommt eine 200-Seiten-Studie, die das angesehene britische Institute for Public Policy Research (IPPR) erstellt hat und die unter dem Titel "Waisen der Freiheit: Die Erziehung von Jugendlichen in einer sich wandelnden Welt" im November veröffentlicht wird.

IPPR-Chef Nick Pearce befürchtet, dass die negative Entwicklung erst am Anfang steht. "Ein weiterer Anstieg der Pädophobie wird alles noch viel schlimmer machen", meinte er. Der Erhebung zufolge schreiten nur 34 Prozent aller befragten Briten ein, wenn sie sehen, wie eine Gruppe 14-Jähriger eine Bushaltestelle zerlegt.

Hilfsbereite Deutsche

In Italien sind es laut Studie 50 Prozent, in Spanien 52 Prozent, und in Deutschland gar 65 Prozent, die zumindest sagen, dass sie die Ruhestörer nicht unbehelligt gewähren lassen würden. Die Zahl der Briten, die auf jeden Fall und jeder Zeit einer Konfrontation aus dem Wege gehen würden, liegt bei 39 Prozent.

Nun ist es so, dass Engländer auch in vielen anderen unbequemen Lebenslagen den direkten Ansatz scheuen. Versäumt es jemand etwa, sich ordnungsgemäß in eine Warteschlange einzureihen, so wird er im allgemeinen nicht zur Rede gestellt, sondern nur mit bösen Blicken oder halblaut gemurmelten Verwünschungen abgestraft.

Doch im Falle von gewaltbereiten Kindern und Jugendlichen gesellt sich die nackte Angst hinzu, selbst zum Opfer zu werden. Insgesamt 1,7 Millionen Briten haben aus dieser Tatsache bereits für sich die Konsequenz gezogen, dass sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße gehen. 1,5 Millionen Menschen geben an, dass sie gerne umziehen würden, weil in ihrer Nachbarschaft regelmäßig Jugendbanden herumlungerten.

Julia Margot vom IPPR macht für die Zahlen den Mangel an einer Kultur verantwortlich, in der - wie in südeuropäischen Ländern - Erwachsene und Kinder gemeinsam am Abend in Bars gingen. "Es gibt ein Problem mit Erwachsenen, die weniger daran gewöhnt sind, Kinder um sich zu haben", meinte sie.

Vorwurf: Medien dämonisieren Jugendliche

Pam Hibbert vom Kinderhilfswerk Barnardo's wiederum schob den Medien die Schuld zu, weil sie Kinder und Jugendliche "dämonisieren". "Erst das züchtet die tatsächliche Furcht heran", erklärte sie.

Nach ihren Angaben ist die Jugend-Kriminalität in den vergangenen zehn Jahren eher konstant geblieben. Aber tatsächlich vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Überfälle, Übergriffe und sogar Tötungsdelikte gemeldet werden, an denen Minderjährige beteiligt sind. Die Regierung unter Premierminister Tony Blair nimmt das Problem so ernst, dass sie ihm mit einer sogenannten "Respect Agenda" zu Leibe rücken will.

Blair hat Strafen und Sanktionen für sozialfeindliches Verhalten drastisch verschärft - doch bislang mit kaum messbarem Erfolg. Seine jüngsten Pläne sehen vor, dass der Staat bereits vor der Geburt eines möglicherweise gefährdeten Kindes dessen alleinerziehende, minderjährige oder drogenabhängige Eltern zur Annahme von staatlicher Beratung und Hilfe verpflichtet.

Auf der anderen Seite fühlt sich eine Mehrheit von Teenagern missverstanden und zu Unrecht verdächtigt - oft nur deshalb, weil sie Jacken mit Kapuzen trügen. "Wenn du hier versuchst einer alten Lady über die Straße zu helfen", zitierte der Guardian einen 18-Jährigen aus einem Sozialbau in Nordlondon, "glaubt sie gleich, du willst ihre Handtasche stehlen."

© SZ vom 25.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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