Gewaltverbrechen in Rot am See:Schwarzer Freitag

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In einem Gasthaus im baden-württembergischen Rot am See erschießt ein junger Mann seinen Vater, seine Mutter und vier weitere Familienangehörige. Besuch in einem Ort, den tödliche Schüsse jäh aus seiner Idylle gerissen haben.

Von Claudia Henzler

Das Hohenloher Land ist eine liebliche Landschaft mit weiten Äckern und sanften Hügeln, auf denen majestätische Windräder stehen oder alte Burgen und Schlösser, die von einer bewegten Vergangenheit im Grenzgebiet zwischen Franken und Württemberg erzählen. Hier liegt Rot am See, etwa 25 Kilometer von der Stelle entfernt, an der sich die Autobahnen 6 und 7 kreuzen. Ein gepflegter Ort mit Fachwerk, Sandstein und Fensterläden, in dem man vergeblich nach dem namensgebenden Stausee sucht, weil der schon vor 250 Jahren zugeschüttet wurde, und von dem die Einheimischen stolz sagen, dass hier die Uhren noch ein bisschen langsamer zu gehen scheinen. Am Freitag wurde er jäh aus seiner Idylle gerissen, als offenbar ein 26-jähriger Mann in der Gaststätte seines Vaters mit einer halbautomatischen Pistole auf mehrere Angehörige losging und sechs von ihnen erschoss.

Nach wie vor ist unklar, warum Mutter, Vater und vier weitere Menschen sterben mussten: die Tante des mutmaßlichen Täters und deren Mann, sowie zwei Halbgeschwister des Schützen. Zwei weitere Opfer überlebten die Schüsse und wurden ins Krankenhaus gebracht. Ein 68-Jähriger schwebte am Sonntag noch immer in Lebensgefahr. Adrian S. hatte nach der Tat selbst die Polizei angerufen und sich widerstandslos festnehmen lassen. Ihm wird nun sechsfacher Mord und zweifacher versuchter Mord vorgeworfen.

Die Gemeinde Rot zählt 5400 Einwohner, die sich auf mehrere eingemeindete Dörfer verteilen. Der Ort selbst ist überschaubar. Hier grüßt man sich, wenn man sich auf der Straße begegnet. Und wer erst vor 25 Jahren hergezogen ist, der gilt als "Neigschmeckter". Klaus S., der am Freitag wohl durch die Pistole seines Sohns starb, war ein Einheimischer und eine Institution. Seine Familie habe das Gasthaus "Deutscher Kaiser" in der Bahnhofstraße schon seit Generationen betrieben, sagt eine Nachbarin. "Ich glaube, 90 Prozent der Leute in Rot am See kannten ihn." Entsprechend groß ist die Bestürzung im Ort.

Sein Motiv ist offenbar auch der Polizei noch unbekannt. Die Leute im Ort arbeiten selbst am Puzzle

Adrian S. dagegen ist im Ort fast unbekannt. Seine Eltern haben sich offenbar schon vor langer Zeit scheiden lassen, woraufhin er bei seiner Mutter in der Nähe von Freiburg aufgewachsen sein soll. Vor wenigen Jahren soll Adrian S. dann bei seinem Vater über der Gaststätte eingezogen sein. Menschen erzählen, dass der 26-Jährige viel daheim saß und Computer spielte. Dass er fünf Kilometer weiter in einem Schützenverein aktiv war und ein Einzelgänger gewesen sei. Doch weil sich natürlich auch die Menschen aus Rot am See über das informieren, was die Medien über den Fall schreiben, ist schon am Samstag schwer zu sagen, was davon wirklich Wissen aus erster Hand ist.

In dem unscheinbaren Sandsteinhaus, vor dem am Freitagnachmittag Mitarbeiter der Spurensicherung ihre Arbeit erledigten, hatte sich Stunden zuvor Tragisches abgespielt: Sechs Menschen waren nach Schüssen gestorben, die ein Familienangehöriger abgefeuert hatte. (Foto: Sven Kohls/dpa)

Während die Polizei erst mal wenig über die Opfer sagt und nichts über das mögliche Motiv, versuchen die Leute im Ort, das Puzzle zusammenzusetzen. Man muss am Samstag nicht lange suchen, um etwas über die Familie S. zu erfahren. Ob auf der Straße, beim Bäcker oder in einem der für die kleine Gemeinde erstaunlich vielen Gasthöfe: Überall wird über die Ereignisse vom Freitag gesprochen, der Redebedarf ist groß. "Das waren ganz sympathische Menschen. Rechtschaffene Leute", sagt eine ältere Dame, die nicht weit vom Tatort entfernt wohnt. Sie hat sich gerade lange mit einem befreundeten Ehepaar ausgetauscht, letztlich aber lässt sich das Drama für sie in einem Satz zusammenfassen: "Liebe Zeit, wer hätte das gedacht."

Darius Kowalik arbeitet als Maler und Grafiker, sein Atelier liegt in der Hauptstraße, nur wenige Hundert Meter vom "Deutschen Kaiser" entfernt. "Es war auch meine Kneipe", sagt der 54-Jährige. In jüngeren Jahren hat er für den TV Rot am See gekickt, die Sportgaststätte in dem schmucken Sandsteingebäude wurde gerne von den Fußballern des TVR besucht. Hier haben sie ihre Siege gefeiert, hier wurden Bierchen getrunken und Fußball geschaut, die Älteren trafen sich zum Kegeln.

Als am Freitag erst Polizeiautos, Krankenwagen und ein Hubschrauber nach Rot am See kamen, dann die ersten Gerüchte und große Verunsicherung folgten, hat Kowalik im Ort ein Gefühl von Zusammenhalt gespürt. Die Leute hätten Informationen geteilt und Worte der Aufmunterung. "Einer hat den anderen ein bisschen aufgefangen." Der Künstler stammt aus Polen, lebt aber seit mehr als 30 Jahren in Rot am See und zählt zu denen, die das Leben in der Gemeinde aktiv mitgestalten. Als die Schüsse fielen, wollte er gerade eine Auftragsarbeit fertig machen. Danach konnte er seine Leinwand nur noch mit schwarzer Farbe beschmieren und mit der Aufschrift "24. Jan. 2020, Rot am See" versehen. Ein stilles Dokument der eigenen Fassungslosigkeit, das zunächst gar nicht als Kunstwerk gedacht war. Erst am nächsten Tag, als ihm klar wurde, dass sich viele seiner Freunde und Bekannten genauso fühlten wie er - und als zur Trauer immer mehr Wut hinzu kam, hat er sechs Löcher hineingehauen. Eines für jeden der Toten.

Am Samstag wird der Ort noch einmal aufgeschreckt: wieder knallen Schüsse

Am Samstag kommt Kowalik vormittags ins Café der Bäckerei "Schrozberger", das direkt neben seinem Atelier liegt, und hängt das Bild vom schwarzen Freitag ohne Aufhebens an die Wand. Er stellt hier viele seiner Werke aus. Hinten im Café sitzen vier Alteingesessene, die Klaus S. und dessen Verwandtschaft gut kannten. Der Wirt sei ein großer Fan des VfB Stuttgart gewesen, heißt es. Seine 62-jährige Schwester und deren Mann lebten in einem Haus etwas unterhalb der Gaststätte. Der Schwager habe früher bei BMW gearbeitet und immer wieder im Gasthaus ausgeholfen.

Die vier Cafébesucher haben sich zum Frühstück getroffen und alles besprochen, was sie mittlerweile über die Tat erfahren haben. So soll die Mutter von Adrian S. mit ihren Kindern aus einer früheren Ehe, beide laut Polizei 36 Jahre alt, und zwei Enkeln auf der Durchreise gewesen sein. Die 56-Jährige wollte offenbar am Samstag weiter nach Sachsen fahren zur Beerdigung ihrer Mutter. Die Frühstücksrunde hat auch über das Motiv gerätselt und die Frage, was jetzt aus dem Gasthaus wird. Als die vier schließlich damit beginnen, sich auszumalen, wie manche der Opfer versucht haben müssen, ins Freie zu fliehen, verordnen sie sich einen Themenwechsel. Das ist eindeutig zu schrecklich.

Am Samstag wird der Ort noch einmal aufgeschreckt: Der Polizei werden um Viertel vor elf Schüsse gemeldet, wieder in Rot am See. Wieder rasen Einsatzkräfte heran. Bald darauf gibt die Polizei Entwarnung: Ein Verdächtiger sei festgenommen worden, er habe mit einer Schreckschusspistole geschossen und befände sich in einem "psychischen Ausnahmezustand". Möglicherweise wollte jemand als Trittbrettfahrer Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Die Bluttat von Rot am See ist außergewöhnlich, weil dort so viele Menschen starben. Mordfälle innerhalb einer Familie aber sind nicht selten. Am Freitag ist die Polizei in Baden-Württemberg nur etwa hundert Kilometer entfernt mit einem weiteren Fall konfrontiert: In Güglingen bei Heilbronn soll es eine tödliche Auseinandersetzung zwischen einem Vater und zwei Söhnen gegeben haben. Ein 15-Jähriger starb, sein 17-jähriger Bruder und der Vater kamen mit schweren Schnittverletzungen ins Krankenhaus. Was sich hier abgespielt hat, ist noch völlig unklar. Die Polizei hat weitere Informationen erst für diesen Montag in Aussicht gestellt.

© SZ vom 27.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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