"Germany 12 Points":Circus maximus

Lesezeit: 4 min

Max war bis vor wenigen Wochen - um nicht zu sagen: Tagen - ein Niemand. Jetzt ist er ein Star, um nicht zu sagen: ein Superstar, der beim Grand Prix für Deutschland singt.

Von Oliver Fux

Mit dem Grand Prix ist es wie mit allen jährlich wiederkehrenden Festtagen. Egal, ob Weihnachten in Unterfranken, Ostern auf Mallorca oder 1. Mai in Berlin-Kreuzberg: Man weiß genau, was kommt - Plätzchen und Punsch, ausgeblasene Eier oder Molotow-Cocktails und entglaste Straßenzüge. Aber man tut trotzdem immer wieder überrascht. Machen wir uns nichts vor: Rituale sind wichtig im Leben.

Der Sieger Max und sein Produzent und Entdecker, Stefan Raab. (Foto: Foto:)

Eine echte Innovation

Aber auch das beste Ritual braucht ab und zu einen Relaunch. Also heißt der Schlager-Grand-Prix jetzt "Eurovision Song Contest". Also gibt es neue Regeln und eine neue Ästhetik. Also wird Pop gespielt. Der ARD ist mit dem deutschen Vorentscheid Germany 12 Points am Freitag gelungen, wovon die SPD immer nur redet: eine echte Innovation. Die Lichtregie setzte dramatische Akzente, die Kameras vollführten weit ausholende, über nassgeschwitzte Leiber hinweggleitende Dreh- und Schwenkbewegungen. Hastige Schnitte, tanzende Bilder, entgleiste Gesichtszüge - alles zuckte vor Reformwillen. Die Show wirkte über weite Strecken wie eine Geisteraustreibung. Das alte Schlagerdeutschland, so die Botschaft, ist tot - und Berlin? Bebt.

Maue Quote

Wer den letzten nationalen Vorentscheid alten Stils aus Kiel verfolgt hat, ein müde abgefilmtes Defilee der trüben Tassen, muss nach dieser Gala sagen: Die ARD ist dramaturgisch in der Jetztzeit angekommen. Die Fusion von Viva-Kameraführung und ARD-Volkstümlichkeit ergab unter dem Strich den bewährten RTL-Appeal. Nur die Quote ist noch nicht so gut wie beim Superstar-Sender: Mit 17,8 Prozent Marktanteil liegt man sogar noch unter dem mauen Ergebnis vom Vorjahr.

Berlin also statt Kiel: Ein Aufbruch zu neuen Ufern. Das Geschehen spielte sich in der Arena Berlin-Treptow ab sowie auf dem ein paar Schritte entfernt liegenden Partyboot "MS Hoppetosse". Von dort blickte man durch Glasscheiben aufs Wasser. Ein einsamer Schwan zog im Hafenbecken seine Runden. Kein ganz weißer Schwan, eher ein vom Öl braun gewordener großer Dreckspatz.

Auf der "MS Hoppetosse" legen Pressevertreter die Füße auf Polster-Sessel. Sie fragen sich gegenseitig Sachen wie: "Na, macht ihr auch ne Boot-Schalte?" Einer lobt die "Super-Atmo", im Umfeld wird eifrig genickt. Ja, man habe schon einige "geile O-Töne" gesammelt. Später, als die Show gelaufen ist, gibt Max, 22, der Sieger des Abends, auf dem Unterdeck eine Pressekonferenz. Max sagt: "Das Abi will ich auf jeden Fall durchziehen, das ist mir das Wichtigste." Stefan Raab (TV Total), der Mentor von Max, sagt, ganz unironisch, ganz der Papa: "Wir müssen beim Finale in Istanbul unser Bestes geben. Und wir müssen zusehen, dass wir ein anständiges Album hinbekommen."

Max' Leben davor

Eine Existenz zwischen Müssen und Wollen also. Max war bis vor wenigen Wochen - um nicht zu sagen: Tagen - ein Niemand. Jetzt ist er ein Star, um nicht zu sagen: ein Superstar. So schnell geht das mittlerweile in Deutschland. Wer den Eggenfelder Daniel Küblböck bedauert, weil er zu schnell berühmt geworden ist, der sollte sich mal mit Max unterhalten. Max, wohnhaft in Krenkingen bei Waldshut, was in der Nähe von Freiburg im Breisgau liegt. Max, Sänger einer Funk-Band, Schüler eines Wirtschaftsgymnasiums. Sein Vater spielt in einer Pop-und-Rock-Oldie-Cover-Band, die nach Aussage eines mitgereisten Lokaljournalisten landkreisweit bekannt ist. "Die musikalische Ader hat er vom Vater", erläutert der Korrespondent stolz.

Max hat im zweiten Wahlgang 92 Prozent der Zuschauer-Stimmen auf sich vereint, die absolut absolute Mehrheit. Ein SED-Ergebnis, aber auf der "MS Hoppetosse" schlägt ihm nicht nur Respekt entgegen. "Ohne die schwulen Stimmen hättest Du niemals gewonnen!", sagt ihm ein Szenejournalist. "Du, Max", fragt ein anderer, "was willst du eigentlich später mal werden?"

Doch interessanter ist vielleicht die Frage nach der unmittelbaren Zukunft. Wird Max das packen? In Istanbul? Beim Finale gegen die Vertreter der anderen Staaten? Und überhaupt? Wie einer, der abhebt und sich vom Blitzschlag des Ruhms oder - schlimmer noch - von Stefan Raab kirre machen lässt, wirkt er nicht. Max sitzt da. Trinkt was. Guckt süß. Spricht leise. Ein bisschen sieht er aus wie ein Schwan, ein sehr sauberer.

Was er kann, können andere auch

Kein Wunder, dass ihn seine spätkindlichen bis frühpubertären Fans so anhimmeln. Max hat Bühnenpräsenz, einen beachtlichen Stimmumfang und einen für deutsche Verhältnisse sehr professionellen Soul-Hit, Can't wait until tonight, baby, till I have you by my side. Gegen so eine Aussage lässt sich wirklich nichts einwenden. Max hat aber auch ein Problem: Das, was er kann, können die seit jeher soul-kompetenten Briten besser, und mittlerweile auch die Barden aus Benelux und Baltikum. Mit einem badischen Rhythm-and-Blues-Bub dürfte für Deutschland kein Staat zu machen sein.

"Ich tipp" auf Platz 9 in Istanbul", sagt der Techno-Intellektuelle Westbam und nimmt einen Schluck Bier. Westbam lehnt ein wenig traurig an der Reling. Er hat gemeinsam mit seinem Partner Afrika Islam inbrünstig den Saal gerockt und wirklich alles gegeben - aber Deutschland war für seinen Song einfach noch nicht bereit. Dennoch ist Dancing with the rebels eines der wenigen Stücke, die den Tag des Vorentscheids überleben und dauerhaft in Erinnerung bleiben werden: ein Lied, das den Kreislauf anregt und das Denken beflügelt.

Lustvoll-böse Konkurrenz

Dieser Beitrag besaß, bei aller scheinbaren Eingängigkeit, was allen anderen abging: Härte. Hingabe. Entschlossenheit. Ein "Protestlied gegen die choreografierte Gesellschaft", kündigten Westbam und Afrika Islam an, doch dann verblüfften sie selbst mit einer raffinierten Choreografie: Außer den beiden in kuttenähnliche Kapuzenanoraks gehüllten und mit Goldketten behängten Sängern tanzten auch noch Polizisten im Stechschritt über die Bühne. Die oft beschworene "nationale Musikidentität" - hier sprang sie einen lustvoll-böse an.

Dagegen wirkte Super-Max mit seiner badischen Bescheidenheit sehr bieder und kompromisslerisch. Ganz zu schweigen von den übrigen Kombattanten, der Spaßspacken-Formation Scooter, der latent beleidigten Sabrina Setlur und dem irgendwie schönen, aber ansonsten belanglosen Patrick Nuo. Genau das ist nämlich das Problem: All die genannten "Acts" erfüllen zwar die Bedingung des ARD-Songstrategen Jürgen Meier-Beer, nämlich "irgendwie zur Identifikation" einzuladen, bleiben aber bei der inhaltlichen Auffüllung dieses Irgendwie im Ungefähren. Irgendwie färbte das auch auf die Moderatoren ab.

Jörg Pilawa moderierte wie immer freundlich und solide, seine Kollegin Sarah Kuttner dagegen mit angezogener Handbremse. Wahrscheinlich wollte sie irgendwie beweisen, dass sie auch seriös kann. Schade. Denn es gab Momente, da hätte ein keck eingeworfenes "Ihr Kacknasen" der Veranstaltung durchaus gut getan.

© SZ v. 22.03.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: