Gedächtnis:Zehnkampf der Großhirne

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In Malaysia kämpft ein Münchner um den Titel des Gedächtnis-Weltmeisters - um sich Karten und Daten zu merken, verknüpft er sie mit Horrorbildern und Reiserouten.

(SZ vom 2.10.2003) - Den Mann mit dem schwarzen Kopfhörer auf dem Flug EK 050 von München über Dubai nach Kuala Lumpur haben die Mitreisenden erstaunt betrachtet. Wie er da am vergangenen Sonntag in der Economy-Class saß, eingepfercht zwischen Urlaubern, vor sich einen Stapel Karten. Wie er kaum hörbar murmelte, die Lippen ein wenig zusammen presste und ab und zu die Augen schloß. "Schon oft haben mich Stewardessen gefragt, ob meine Kopfhörer Wellen aussenden und so die Elektronik des Flugzeugs stören können", sagt Gunter Karsten. "Dabei trainiere ich nur mein Gehirn."

Gunter Karsten kämpft vom morgigen Freitag an in der malaysischen Hauptstadt um den Weltmeistertitel, Zweiter und Dritter war er bereits. 60 Teilnehmer treten in zehn Disziplinen mit so exotischen Namen wie "Zahlensprint", "Wörterlauf" oder "Historische Daten" an. "Learn faster, think better" ist das Motto der Wettkämpfe.

Man kann es sich kaum vorstellen, welche Dramen sich in den Köpfen der Kandidaten abspielen, wenn sie an den schlichten Holztischen des "Prince Hotel" in Kuala Lumpur sitzen. Denn egal, was sich die Gedächtniskünstler merken werden, ob Zahlen, Karten, Daten, Namen oder ganze Texte, sie werden die Informationen in Phantasiebilder verwandeln. Verlassen werden diese ihren Kopf jedoch wieder als Zahlen, Karten, Daten Namen und Texte.

"Ich bevorzuge grausame Bilder", sagt Karsten. Auch der ehemalige Weltmeister Dominic O'Brien sagt: "Grell, brutal und erotisch" sollen sie sein. "Je bizarrer sie sind, desto einfacher lassen sie sich merken." Bei Karsten brät dann schon mal eine freches Mädchen im Ofen. Und jedes der Schlüsselworte wie Göre und Ofen steht für eine Information. Wichtig sei es, ein klares Bild im Gehirn zu speichern, sagt Karsten. Je klarer das Bild, umso genauer und schneller lässt sich die verborgene Information wieder dekodieren.

Der Erotikfaktor ist nahe Null

Die Szenerie bei den deutschen Meisterschaften Anfang Juli in Weinheim wirkt gar nicht brutal. Der Erotikfaktor im Seminarraum mit seinen gedeckten braun-grün Tönen ist nahe Null. Stattdessen stehen Tische und Stühle ordentlich aufgereiht. Gunther Karsten sitzt in der ersten Reihe. Vor ihm liegen eine große Stoppuhr, eine Banane, ein Stapel Spielkarten, zwei gelbe Ohropax-Stöpsel, die schwarzen Kopfhörer und seine orange-rot verspiegelte Brille. Die hat Karsten selbst entworfen, das Sichtfeld innen mit Klebstreifen zu einem Sechseck verengt. Das diene der Konzentration, sagt Karsten.

Als Kind sei er immer schüchtern gewesen, erzählt er. Da habe er begonnen, sich Aufgaben zu stellen, kleine geistige Mutproben. Inzwischen ist das Denken für ihn auch Sport: "Menschen, die vielleicht körperlich nicht so fit sind, können sich eben geistig messen."

Mit den Jonglierbällen lockert er sich auf. Die anderen Teilnehmer beobachten ihn respektvoll. Nicht nur, weil er auch im Fernsehen Verona Feldbusch schon seine Künste beigebracht hat, da waren andere Teilnehmer auch schon. Karsten ist vielfacher Weltrekordler, hat wie andere Stars der Szene seine Techniken in einem Buch beschrieben ("Erfolgsgedächtnis", Mosaik Verlag, 2002).

An jenem Wochenende im Juli gewinnt er zum sechsten Mal in Folge die deutsche Meisterschaft und stellt drei Weltrekorde auf.

Beim Zahlenmarathon kann man ihm zuschauen. Äußerlich wirkt das erst einmal unspektakulär, mit einem Lineal fährt er eine Stunde lang die endlosen Kolonnen ab, murmelt unhörbar vor sich hin. Dann die Wiedergabe: Zwei Stunden lang schreibt er Zahlen auf. Anfangs im schnellen Rhythmus, später starrt er in die Ferne, als würde er dort etwas suchen. Doch es ist alles in seinem Kopf, im Lauf einer Meisterschaft merkt er sich mehr als 8000 Einzelinformationen.

Weshalb aber sind die Bildertechniken so erfolgreich? Weil sie auf beide Gehirnhälften zugreifen. Die linke Gehirnhälfte ist für Logisches und Reihenfolgen zuständig, die rechte für Bilder und Eindrücke. Bei sturem Auswendiglernen benutzt man nur die linke Hälfte. Wenn aber aus Zahlen phantasiereiche Bilder werden, hat auch die rechte Hälfte zu tun. Was den Erfolg deutlich erhöht.

Besonders erfolgreich ist die "Routenmethode"

Jeder kann solche Techniken lernen. Besonders erfolgreich ist die "Routenmethode". Gedächtniskünstler gehen im Geist Strecken ab. Die imaginären Pfade können dabei überall liegen, quer durch die eigene Wohnung, vorbei an Kühlschrank, Badezimmertür, Buchregal. Gunther Karsten bevorzugt Urlaubsorte, Teneriffa etwa. Jeweils 50 Orte liegen entlang einer Route. Ein Spitzensportler braucht möglichst viele verlässliche Routenpunkte. Karsten hat mittlerweile 3000 auf 60 Routen.

An jedem Routenpunkt legt man Informationen ab, immer der Reihe nach. Die Informationen selbst muss man vorab kodieren, in der Regel wieder in Bildform. Zahlen von 0 bis 9 beispielsweise ordnet man in je einem Konsonanten zu, Karsten nimmt zum Beispiel ein P für 9, weil es das Spiegelbild der 9 ist. Die Zahl 99 übersetzt er dann in Papa. Die 3 ähnelt einem M, 33 ist also Mama. Man nennt dies Mastersystem.

Im Internet unter www.memoryXL.de erklären verschiedene Gedächtniskünstler einige der üblichen Kodierungsysteme. Etwa, wie man sich fiktive Ereignisse merkt, also "1394 - Eruption des Vulkans Ätna in Sizilien". Zuerst sucht man sich ein Schlüsselwort, hier der Vulkan. "Im nächsten Schritt teile ich das historische Datum in die 13 und die 94. Die Codierwörter für diese Zahlen kennen wir schon von unserem Mastersystem", schreibt Karstens Frau Michaela Buchvaldova. "Unter Nummer 13 stelle ich mir immer ein Fußballteam vor und unter der Nummer 94 immer ein frisch gezapftes Bier."

Die Kunst ist, die drei Bilder "Vulkan", "Fußballteam" und "Bier" miteinander zu verbinden. Das geht dann so: "Die italienische Nationalmannschaft hat ein Fußballspiel gewonnen, und die Fußballspieler feiern so heiß mit viel Bier, dass der Vulkan Ätna zu speien anfing."

Wenn Gunter Karsten über seine Leidenschaft spricht, verwendet er oft Vergleiche aus dem Sport. Die Routen etwa könne man langsamer oder schneller durchlaufen. Auch die Disziplinen erinnern daran: Datensprint, Kartenmarathon. Wenn er am morgigen Freitag um den Titel kämpft gegen Andy Bell, muss er sicher auch etwas riskieren. Er fühle sich dann immer wie ein Hürdenläufer, der knapp über die Hürden geht. "Reißt man die Hürde, kostet das Zeit", sagt Karsten. "Das Gehirn ist ein Muskel."

Auch Kollegen wie die Weltmeister Andy Bell oder Dominic O'Brien sehen das so. Sie berufen sich dabei auf antike Vorbilder. Schon im 6. Jahrhundert vor Christus wusste der griechische Philosoph Simonides von Keos um die Kraft imaginärer Bilder. Er konnte sich Namen, Zahlen und Ereignisse besser merken, wenn er sie umchiffrierte. Genau dieses Bilder-erzeugen trainieren die Gedächtnissportler immer wieder. Aber nur manche werden so gut wie Karsten.

"Es bringt nichts, Kinder zu zwingen."

Woher kommen solche genial anmutenden Fähigkeiten? "Die Neigung, sich etwa Zahlen gut merken zu können, ist einerseits genetisch bedingt. Andererseits zeigt sich immer mehr, wie wichtig es ist, schon früh als Kind mit bestimmten Dingen konfrontiert zu sein", sagt Henning Scheich vom Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg. "Zum Beispiel wäre Mozart sicher nicht so genial gewesen, wenn er nicht schon von Geburt an Musik um sich herum gehabt und schon als kleines Kind ein Instrument in die Hand gedrückt bekommen hätte. Es bringt allerdings nichts, Kinder dazu zu zwingen."

Scheich erzählt von Erfahrungen aus China, wo Kinder schon im Vorschulalter mit Zahlenspielereien zu tun haben. Bei Mathematik-Olympiaden schneiden chinesische Kinder immer wieder auffallend gut ab. Gunther Karsten trainiert deshalb mittlerweile schon früh den Nachwuchs.

Talente wie die Geschwister Sebastian und Katharina Bunk unterrichtet er mittlerweile regelmäßig, sie waren selbst schön öfter in Fernsehshows und werden als Wunderkinder vorgezeigt. Dass man Gedächtniskünstler wie Genies behandelt, findet Karsten völlig übertrieben. Seinen IQ will er nicht verraten. "Ich habe das mit meiner Frau so ausgemacht, sie sagt mir ihren auch nicht." Doch die Gesellschaft hält hartnäckig daran fest, Denken als ein Wunder zu sehen. Wissenschaftler versuchen deshalb, dem Gehirn das Geheimnis zu entlocken. Vor zwei Jahren ist Karstens Gehirn am Londoner Institute of Neurology im Kernspintomographen gescannt worden, während er Gedächtnisaufgaben löste. Die Forscher wollten sehen, welche Hirnarreale aktiviert werden und ob diese Areale bei Karsten größer, aktiver und ausgeprägter sind als bei anderen.

Lassen sich bei Gedächtniskünstlern Veränderungen im Gehirn nachweisen? "Nein", sagt der Frankfurter Gehirnforscher Wolf Singer. "Es mag sein, dass der Hippokampus als Organisator des deklarativen Gedächtnisses und räumlichen Orientierungsvermögens etwas vergrößert ist. Nachweisen konnte man solche Veränderungen jedoch bis heute nicht."

Weshalb werden von den Gedächtnis-Künstlern Techniken angewandt, die die zu merkenden Inhalte mit räumlichen Vorstellungen verbinden? "Man darf bei solchen Techniken nie vergessen, dass selbst wir Menschen im Grunde genommen noch Tiere sind", sagt Singer. "Auch das Eichhörnchen muss wissen, wo es seine Nüsse versteckt hat. Deshalb sind die Bereiche im Gehirn, die für das räumliche Erinnerungsvermögen zuständig sind, besonders leistungsfähig."

Obwohl Gunther Karsten seit fast einem Jahrzehnt seinen Geist trainiert, kann er ihn bis heute noch nicht gut einschätzen. "Meinen Körper kenne ich besser", sagt Karsten. Wer also wird Weltmeister in Kuala Lumpur? "Ich weiß erst nach zwei Disziplinen, wie gut ich drauf bin", sagt er. "Ich hätte gern einen Test, um meine geistige Fitness zu prüfen."

Mitarbeit: Michael Brendler

© Von Hubert Filser - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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