Fünfjähriges Mädchen in Schwerin:Verhungert und verdurstet

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Nach dem grausamen Tod eines fünfjährigen Mädchens in Schwerin, weisen die Behörden jede Schuld von sich.

Arne Boecker

Um kaufkräftige Touristen anzulocken, hat Schwerin seit der Wiedervereinigung tüchtig Schminke aufgelegt. Zwischen Marienplatz und dem goldglänzenden Schloss erstreckt sich das schöne Schwerin, das Schwerin für Gäste und Geschäftsleute.

Trauer: Vor dem Haus der fünfjährigen Lea-Sophie legten Nachbarn Blumen und Kerzen nieder. (Foto: Foto: AP)

Die Mehrzahl der knapp 100.000 Schweriner wohnt allerdings in einem der Stadtteile. Auf dem Großen Dreesch oder in Lankow ballen sich die Menschen in den Plattenbauten, die hier seit DDR-Zeiten stehen. Auch wenn viele Alteingesessene nicht wegwollen: Dies ist das nicht ganz so schöne Schwerin.

In Lankow hat auch die fünfjährige Lea-Sophie gewohnt, die in der Nacht zum Mittwoch in einer Schweriner Klinik auf schreckliche Weise gestorben ist. Als Lea-Sophie eingeliefert wurde, war sie ohnmächtig. Die Ärzte diagnostizierten "erhebliche Unterernährung, starken Flüssigkeitsverlust und Rötungen im vorderen Halsbereich", wie Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier bekanntgab.

Laut Schweriner Volkszeitung hat Lea-Sophie in der Nacht, in der sie starb, gerade mal sieben Kilo gewogen - so viel wie eine Einjährige. Derlei habe er "überhaupt noch nie gesehen", sagte ein Kliniksprecher. Angesichts dieser Fakten zeigte sich Innenminister Caffier "tief bestürzt".

Eltern in Haft

Am Donnerstagnachmittag lag das Ergebnis der Obduktion vor. Es bestätigt die schlimmsten Befürchtungen. Nach den Worten von Schwerins Oberstaatsanwalt Hans-Christian Pick ist Lea-Sophie "monatelang nicht ausreichend und richtig ernährt" worden. Die Fünfjährige sei "verhungert und verdurstet".

Die Rechtsmediziner haben nach Picks Worten außerdem "Durchsitz-Geschwüre" an ihrem Körper gefunden. Am Mittwoch waren die Eltern des Kindes, Stefan T., 26, und Nicole G., 23, wegen des Verdachts festgenommen worden, sich der "Tötung durch Unterlassen" schuldig gemacht zu haben. Am Donnerstag beantragte Staatsanwalt Pick, das Paar wegen gemeinschaftlichen Totschlags in Haft zu nehmen.

Schnell war in Schwerin die Frage aufgekommen, welche Rolle das Jugendamt im Fall Lea-Sophie spielt. Die Stadtverwaltung bestätigt lediglich, dass sich Mitarbeiter des Jugendamtes vor etwa zwei Wochen mit der Familie getroffen hätten, nachdem Nachbarn deren Verhalten als merkwürdig aufgefallen sei.

Mit Verweis auf staatsanwaltschaftliche Ermittlungen verweigert Schwerins Sozialdezernent Hermann Junghans jede weitere Auskunft. Ohne dies zu erläutern, behauptet er allerdings, ihm lägen "keine Hinweise dafür vor, dass das für derartige Vorfälle vorgesehene Verfahren nicht eingehalten" worden sei. Die "Abwehr von Kindeswohlgefährdungen" besitze in seinem Dezernat schließlich "höchste Priorität".

Nach Recherchen des Radiosenders NDR 1 haben die Jugendamts-Mitarbeiter die Familie nicht in Lankow angetroffen. Statt dessen hätten sie per schriftlicher Benachrichtigung um einen Besuch im Amt gebeten. Dem seien Stefan T. und Nicole G. auch nachgekommen, so der Radiosender.

Justin in der Obhut einer Pflegefamilie

Das Fehlen von Lea-Sophie hätten die Eltern damit begründet, das Mädchen sei bei Bekannten. Auch hierzu heißt es bei der Stadt Schwerin: Kein Kommentar. Lea-Sophie ist nicht das einzige Kind von Stefan T. und Nicole G. Seit zwei Monaten zählt Justin zur Familie. Auch zu Justins Verbleib äußert sich Sozialdezernent Junghans nur schwammig.

Man möge davon ausgehen, dass "weitere Kinder nicht gefährdet sind". Wie zu erfahren ist, befindet sich Justin seit Mittwoch in der Obhut einer Pflegefamilie.

Lankow, Kieler Straße 15, 5. Stock: Seit drei Jahren wohnen Stefan T. und Nicole G. in der Vier-Zimmer-Wohnung, die der Schweriner Wohnungsbaugesellschaft (SWG) gehört. Beide sollen nach Auskunft von Nachbarn arbeitslos sein.

In dem blitzblanken Treppenhaus stehen auf jeder Etage Blumen an den Fenstern. Ganz oben, wo Stefan T. mit Lebensgefährtin Nicole G. lebt, hängt eine aus Zweigen gebastelte Eule an der Tür. Auf dem Boden steht ein Paar weiße Hausschuhe, penibel genau nebeneinander und im rechten Winkel zur Wand ausgerichtet.

Am Donnerstag ist in der Kieler Straße jede Menge Klatsch und Tratsch über die Familie zu hören, obwohl sie eher zurückgezogen gelebt haben muss. Sicher ist nur, dass es vor einiger Zeit Gespräche zwischen der Wohnungsbaugesellschaft und der Familie gab; Nachbarn hatten sich über das Gekläff der beiden Hunde beschwert, die die Familie - neben vier Katzen - in ihrer Wohnung hält.

Viele Kinder leben von Sozialleistungen

Wer es mit der Stadt Schwerin gut meint, nennt sie gemütlich, aber "verschlafen" trifft es sicher auch. Zu DDR-Zeiten war sie Hauptstadt des Bezirks, heute ist sie Hauptstadt des Landes Mecklenburg-Vorpommern, entsprechend hoch ist die Zahl derjenigen, die in Verwaltungen arbeiten. Dass in Teilen der Stadt Not herrscht, wird auf den ersten Blick kaum sichtbar. Aber es gibt sie.

Das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) hat kürzlich ermittelt, dass Schwerin viele Kinder beherbergt, die von Sozialleistungen leben. Unter allen 439 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland belegt die Stadt hier den zweiten Platz.

Um dies nachzuvollziehen, muss man raus aus der Innenstadt, ran an die Ränder. "Natürlich haben wir in Lankow soziale Probleme", sagt Michael Strähnz (Linkspartei), der den Beirat des 11000-Einwohner-Stadtteils leitet. "In den vergangenen Jahren sind viele junge Familien zugezogen", sagt Strähnz.

Kein Einzelfall

Gerade diese Klientel sei häufig von Arbeitslosigkeit betroffen. Jugendamtsleiterin Heike Seifert bestätigt, dass es in Schwerin Fälle gegeben hat, in denen ihre Leute verwahrloste Kinder aufgespürt haben. In einigen Fällen sei der Mangel so groß gewesen, dass man die Kinder in Krankenhäuser habe einweisen müssen; Fallzahlen lägen ihr aber nicht vor.

© SZ vom 23.11.07/ckn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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