Frankreich:Die zwei Leben der Hélène Castel

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Bis vier Tage vor der Verjährung lebte eine Pariser Bankräuberin unerkannt in Mexiko, dann wurde sie gefasst - das Urteil fiel nun mild aus.

Gerd Kröncke

Das Leben kann sehr gemein sein. Als die Polizisten vor ihrer Tür standen, wusste Hélène Castel, was die Stunde geschlagen hatte. 19 Jahre und 361 Tage waren seit ihrer Verurteilung vergangen, aber sie brauchten ihr den Haftbefehl gar nicht erst vorzulesen. Hélène Castel, die unter dem Namen Florencia Rivera-Martín in der mexikanischen Stadt Jalapa lebte und dort als Psychiaterin arbeitete, war, wie sie später sagte, merkwürdig erleichtert, dass sie endlich gekommen waren. Vier Tage später wäre die Tat verjährt gewesen.

Hélène Castel, Polizist (Foto: Foto: AFP)

Im Mai 1980 hatten Hélène Castel und sechs andere junge Leute sich als Bankräuber versucht. Der Überfall auf eine Filiale der BNP-Bank an der Rue Lafayette in Paris war furchtbar schief gegangen. Einer der Mittäter wurde von der Polizei erschossen, einer entkam und ist bis heute nicht identifiziert. Auch Hélène Castel konnte fliehen, wurde dann in Abwesenheit zu einer Gefängnisstrafe verurteilt - von dort an rechnete die Verjährungsfrist, 20 Jahre.

Ihr Bruder hatte ihr Geld gegeben, mit dem sie es bis nach Mexiko schaffte. In der Fremde hat sie ein neues Leben gefunden, hat sich erst in allerlei Berufen durchgeschlagen und schließlich studiert, wurde Psychotherapeutin. Ihrer inzwischen 19-jährigen Tochter Maria hat sie nie ihre Geschichte erzählen können. Als Florencia fühlte sich Hélène Castel wie im Exil.

Die Jugendfreunde haben ihre Strafe verbüßt

Vorige Woche stand sie vor einem Pariser Gericht. Sie hatte drei schreckliche Monate in einem mexikanischen Gefängnis verbracht, bevor sie ausgeliefert wurde, dann ein Jahr im Frauengefängnis Fleury-Mérogis. Vor Gericht war von zwei Leben die Rede, die nichts miteinander zu tun hatten. Vor Gericht traf sie auch die Jugendfreunde wieder, die ihre Strafe verbüßt haben.

Sie haben inzwischen ein reines polizeiliches Führungszeugnis, weil nicht nur die Tat verjährt, sondern auch eine Vorstrafe nicht auf ewig nachgetragen wird. Für die einstigen Komplizen war es schwer, die alten Zeiten noch einmal lebendig werden zu lassen. Sie haben es zu Ansehen gebracht, zu Berufen, auf die sie sich zum Teil schon im Gefängnis vorbereitet hatten. Einer ist Arzt geworden, einer Künstler, die zweite Frau der Gruppe ist Historikerin.

Es waren andere Zeiten damals. Man lebte, wiewohl aus guter Familie, in besetzten Häusern. Schon im Alter von 17 Jahren hatte Hélène Castel die Eltern verlassen, sah sie nur gelegentlich. Sie ließen ihr alle Freiheit, wohl zu viel davon. Der Vater, schon damals ein etablierter Soziologe, erinnert sich, dass man in der Nach-Achtundsechziger-Zeit misstrauisch gegen jede Erziehung war, die als repressiv ausgelegt werden konnte. Er versuchte dem Gericht nun klarzumachen, dass Verbrecher anders aussähen als seine Tochter. Der Vater hatte sie gelegentlich in ihrem Exil besucht.

Irgendwie links

Als damals die besetzten Häuser geräumt wurden, entschlossen sich die Jugendlichen wegzugehen und woanders ein freieres Leben zu suchen. In Südamerika, dachten sie, nach dem Motto: "Oh wie schön ist Panama." Sie verstanden sich zwar als antibürgerlich, irgendwie links, wenn auch nicht als Revolutionäre. Doch um abzuhauen brauchten sie Geld. Einer hatte die Idee, eine Bank zu überfallen.

Hélène Castel hatte, hieß es nun vor Gericht, eine Nebenrolle gespielt, obwohl sie doch auch eine Pistole dabei hatte. Einer der Freunde hatte geschossen und wurde selbst erschossen. Nun - nach einem Vierteljahrhundert - war die Stimmung vor Gericht fast nostalgisch. Es flossen Tränen bei den alten Gefährten, die mit 46 Jahren noch immer nicht alte Angeklagte fand eindringliche Worte, sich bei den damaligen Opfern, den Bankangestellten, zu entschuldigen. Selbst der Nebenkläger, der Anwalt, der schon im ersten Verfahren die Bank vertreten hatte, bezeichnete die Täterin von damals als "völlig integriert".

Auch die Bankangestellten, inzwischen alle pensioniert, zeigten sich von abgeklärter Nachsicht. Am Ende wurde Hélène Castel am späten Freitag zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt, davon neun zur Bewährung. Die Strafe gilt durch die Untersuchungshaft als verbüßt. Hélène Castel konnte, an der Seite ihrer Tochter, das Gericht als freie Frau verlassen. Sie will nun für immer in Frankreich bleiben.

© SZ vom 9. 1. 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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