Frankreich:Die ganz eigene Wahrheit der Kinder

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Unschuldige wie der Arbeiterpriester Wiel wurden der schlimmsten Verbrechen bezichtigt und kamen dafür in Haft - die französische Justiz sucht nach einem Ausweg.

Von Gerd Kröncke

Es muss für den Geistlichen ein ganz besonderes Pfingstfest gewesen sein. Der Abbé Dominique Wiel, 67 Jahre alt, ist ein Arbeiterpriester und hat 30 Jahre in der nordfranzösischen Kleinstadt Outreau gelebt unter einfachen Leuten in einem Zwei-Zimmer-Appartement.

Er kümmerte sich um die Jugendlichen des Viertels, um ihnen den Start ins Leben zu erleichtern. Er war arm und anspruchslos und mit sich, seinem Gott und der Welt im Reinen. Bis er eines Tages im November vorletzten Jahres ins Gefängnis geworfen wurde und sich mit 16 Mitangeklagten seit Anfang Mai vor einem Strafgericht gegen den Vorwurf wehren muss, Kinder misshandelt und vergewaltigt zu haben.

Am Donnerstag vor Pfingsten setzte ihn das Gericht auf freien Fuß, wenigstens war er nicht länger eingesperrt. Doch das Verfahren vor dem Gericht von Saint-Omer geht weiter. Mit dem Abbé wurden auch die anderen Angeklagten freigelassen, die von Anfang an ihre Unschuld hinausgeschrieen haben. Einige hatten fast drei Jahre gesessen.

13 Menschen stehen vor den Trümmern ihres Lebens

Für den Abbé war dies der erste christliche Feiertag seit 541 Tagen - er hat mitgezählt -, den er frei, wenn auch noch nicht freigesprochen verbringen konnte. Die Farben, die Gerüche und die Geräusche der Welt habe er mit großer Lust neu wahrgenommen, sagt er.

Dass der Abbé am Ende als freier Mann den Gerichtssaal verlassen kann, daran zweifelt im Land kaum noch jemand. Doch auch dann bleibt dies "der größte Justizskandal, den die Republik seit langer, langer Zeit erlebt hat", wie einer der Anwälte sagt.

Dreizehn Menschen - eine Bäckerin, ein Taxifahrer, Arbeiter und Arbeitslose, ein Gerichtsvollzieher und eben der Abbé - stehen vor den Trümmern ihres Lebens. Wer kleine Kinder hatte, dem wurden sie weggenommen, wer Arbeit hatte, verlor sie, manche mussten ihr Haus verkaufen, der Gerichtsvollzieher hat keine Kanzlei mehr, selbst im Gefängnis waren sie Geächtete, einer hat es nicht ausgehalten und sich umgebracht.

Denn nicht alle hatten den moralischen Rückhalt und die Stärke im Glauben wie der Priester Dominique Wiel, der zudem von Hunderten von Bürgern unterstützt wurde.

Der Skandal, der als eine fast banale, nicht seltene Affäre von Inzest und Kindesmisshandlung begann, wurde von einer Frau ausgelöst, deren Versagen so groß ist wie die Verbrechen, die ihr zur Last gelegt werden. Myriam Delay hasst die ganze Welt, und man könnte meinen, dass sie sich für ihr kaputtes Leben rächen will.

Sie ist eine bemitleidenswerte Kreatur. Es waren ihre Anschuldigungen, die dreizehn unbescholtene Bürger vor Gericht gebracht haben, und dies, dafür spricht nun alles, weil sie nicht allein mit ihrem geständigen Partner untergehen wollte.

Sie hatte in ihrem Leben selbst nichts als Elend kennen gelernt, ist geprügelt, misshandelt, vergewaltigt worden so weit sie zurückdenken kann. Als sie vor gut drei Jahren festgenommen wurde, hatte sie bald zugegeben, dass sie ihrerseits ihre vier kleinen Söhne geprügelt, misshandelt und vergewaltigt hat. Zusammen mit ihrem Mann und einem Paar aus dem Hause hat sie Dinge mit ihren und deren Kindern getrieben, die junge Seelen zerstören.

Wie auswendig gelernt

Vorige Woche hörte das Gericht den zehnjährigen Jonathan, der eine Mischung aus Erlittenem und Erdachtem erzählte. Ein lächelnder Junge in einem hübschen blaukarierten Hemd ohne sichtbare Befangenheit vor dem Gericht schilderte, als sei es ganz normal: "Ich werde es Ihnen sagen: Mein Papa hat seinen Zizi in meinen Mund getan. Ich konnte nicht mehr sprechen, so groß war er. Soll ich Ihnen die Namen von den Leuten sagen, die es genauso gemacht haben?"

Als hätte er es auswendig gelernt, fing er an, Namen aufzuzählen. "Der Abbé Dominique, die Bäckerin, der Gerichtsvollzieher, der Taxifahrer..." Es seien 17 Erwachsene im Wohnzimmer daheim gewesen. Wobei 17 genau die Zahl der Angeklagten ist.

Es muss auch dem Gericht schwer fallen, dem Jungen zuzuhören, der manches erzählt, was ohne Logik bleibt. Zum Beispiel die Geschichte von einem toten kleinen Mädchen. Er und sein Vater hätten das Kind im Hof begraben. Er selbst, Jonathan, habe mit der Schaufel das Loch gemacht.

Erst ließ man die Kinder zuschauen, dann wurden sie mit hineingezogen

Dazu muss man wissen, dass sich dieses vor etwa sechs Jahren zugetragen haben soll, als der Junge gerade vier war. Das Grün zwischen den Häusern ist längst umgepflügt worden von den Ermittlern, ohne jeden Erfolg. Aber Jonathan beharrt auf seiner Geschichte.

In einer Wohnung des sozialen Wohnungsbaus am Rande der nordfranzösischen Stadt Outreau, in dem Viertel La Tour du Renard, sind ohne Zweifel schreckliche Dinge passiert. Myriam Delay, ihr Mann und ihre vier Kinder lebten in dem Haus mit dem schönen Namen Les Merles, die Amseln.

Mit dem Paar von nebenan hatte man offenbar gemeinsame Sex-Spiele getrieben. Erst ließ man die Kinder zuschauen, dann wurden sie mit hineingezogen, keines war älter als elf. Dieses ist unstreitig und war peu à peu herausgekommen, nachdem Sozialarbeiter aufmerksam geworden waren. Bei den Ermittelungen hatten die Kinder angefangen zu reden.

Die Anklage stützt sich auf die Aussage der Mutter und ihrer Kinder. Sie nannten Namen von Leuten, die sie irgendwie kannten. Die Kinder bestätigten die Angaben der Mutter und umgekehrt. Der Vater, der sich lange auf sein Nichterinnern zurückzog, hatte schließlich seine Vergehen an den Kindern eingestanden.

Dieser Vater, ein dumpfer Mensch, bestritt vor Gericht, dass außer den beiden Paaren andere beteiligt waren. Zu einem Eklat kam es, als Mutter Myriam vorletzte Woche zusammenbrach. Sie habe die Beteiligung der anderen 13 teils selber erfunden, teils bestätigt, um ihre Kinder nicht als Lügner dastehen zu lassen.

Der Gerichtsvollzieher Alain Marécaux geriet in die Mühlen der Justiz, weil Myriams Kinder gegenüber dem Untersuchungsrichter von einem Gerichtsvollzieher gesprochen hatten. Myriam hatte gleich zwei im Sinn, mit denen sie damals wegen ihrer Schulden zu tun hatte. "Doch der Untersuchungsrichter sagte bei der Nennung der Namen nein und nannte den Namen Marécaux. Da habe ich zugestimmt."

Der Richter war sich sicher: "Die Kinder lügen nicht"

Marécaux war schon vor einiger Zeit aus der Haft entlassen worden, weil die Justiz offenbar fürchtete, er könnte ihr wegsterben nach 97 Tagen Hungerstreik. Der einst stämmige Mann wog nur noch 43 Kilo. Nun ist er gebrochen fürs Leben. Er muss sich stützen lassen, wenn er zu Gericht geht.

Den Abbé hatte Myriam Delay ursprünglich gar nicht beschuldigt, der war ihr irgendwann eingefallen, obwohl sie ihm nach der Festnahme noch in einem verzweifelten Brief schrieb, dass er ja keine Ahnung gehabt habe, was hinter ihrer Tür vor sich gegangen sei. Ursprünglich war der Abbé als Leumundszeuge vorgesehen gewesen.

Die Anwälte, und nun auch die Medien, die zunächst durchaus die Theorie von einem Sex-Ring hatten glauben wollen, beklagen, dass weder die angeklagte Kronzeugin, noch die Kinder je mit den Beschuldigten konfrontiert wurden. Der Untersuchungsrichter war sich sicher: "Die Kinder lügen nicht."

Myriam Delay nahm wieder alles zurück

Wobei er sich ganz auf die psychologischen Sachverständigen verließ. Nun wissen alle: Selbst wenn Kinder nicht lügen, haben sie vielleicht ihre eigene Wahrheit.

Die Angeklagte Myriam Delay hat dann vorige Woche noch einmal das Wort erbeten, um dem Vorsitzenden mitzuteilen, dass sie alles wieder zurücknehme. Alle von ihr und ihren Kindern benannten Angeklagten seien doch schuldig. Tags darauf weigerte sie sich, ihre Zelle zu verlassen und weiter an der Verhandlung teilzunehmen.

Die beiden Elternpaare aus dem Haus Les Merles sind geständig. Die anderen 13 setzen darauf, dass die Staatsanwaltschaft die Anklage aufhebt. Der Abbé, der gleichfalls einen Hungerstreik hinter sich hat, hofft, dass der Fluch bald vorbei ist: "Sind wir denn alle Geiseln des Irrsinns?"

© SZ vom 1. Juni 2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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