Fernsehärzte:Melodramen in Mull

Lesezeit: 3 min

Fernsehärzte wie Dr. Kleist therapieren sogar den Osten Deutschlands mit Erfolg, was man an der Quote erkennt. In schönen Bildern wird dem Zuschauer vorgegaukelt: Auch die ekelhaftesten Probleme sind lösbar.

Von Titus Arnu

Dr. Kleist kommt zum Beispiel schwitzend vom Frühsport nach Hause und jauchzt: "Wahnsinn! Spiegeleier!" Und das, obwohl er eigentlich wenig zu lachen hat. Seine Frau ist gerade bei einem Verkehrsunfall gestorben, er hat bei einem jungen Patienten einen bösartigen Tumor festgestellt, und sein Sohn ist vor lauter Kummer in der Schule umgekippt - Platzwunde!

Ein guter Fernseharzt kann allerdings alles heilen, von schweren Platzwunden über schweren Liebeskummer bis zu schweren Schicksalsschlägen. Christian Kleist (Francis Fulton-Smith), der neueste Vorzeige-Doktor der ARD, ist so ein Medizin-Mann. Er weiß, wie man Unheil erträgt und dabei locker bleibt.

Den Tod seiner geliebten Gattin hat er einigermaßen verkraftet. Fröhlich flirtet er wieder mit Sprechstundenhilfen, Patientinnen und Lehrerinnen. Und dem Tumor befallenen Twen erklärt er: "Ist doch viel cooler, wenn man den Krebs besiegt."

Geigen, Abblende. Alles wird gut.

Was vor allem gut wird, ist der Marktanteil der ARD am Dienstagabend. Jeweils mehr als sieben Millionen Zuschauer sahen die ersten Folgen der Hausarzt-Saga, die in Eisenach spielt. 13 Folgen sind abgedreht, eine zweite Staffel wird unvermeidbar sein.

In Kombination mit der langlebigen Sachsenklinik-Serie In aller Freundschaft, ebenfalls am Dienstagabend bei der ARD zu sehen, empfängt das Publikum jede Woche eine Höchstdosis an krankem Kitsch. Die Diagnose steht fest: Melodramen in Mull sind derzeit auffällig beliebt.

Das Placebo-Prinzip

Warum nur? Die Idee, eine Arztserie zu machen, ist nicht mehr besonders originell. Ein Großteil des Erfolgs von Familie Dr. Kleist liegt vielleicht darin, dass Ostdeutschland einmal nicht als Problem-Zone vorkommt, sondern als blühende Landschaft mit tüchtigen Menschen. Koryphäen wie Dr. Kleist gab es bisher eher in Berlin (Neues vom Bülowbogen), in Bayern (Tierarzt Dr. Engel) oder an der Küste (Der Landarzt).

Solche Arztserien funktionieren nach dem Placebo-Prinzip. Sie gaukeln dem Zuschauer vor, dass auch noch die ekelhaftesten Probleme lösbar sind, wenn man nur einen Mann in Weiß machen lässt. Das eigene Leben erscheint dann erträglicher.

Während realistisch, nahezu perfekt inszenierte Krankenhaus-Serien wie Emergency Room den unappetitlichen Alltag zeigen, schwelgt Dr. Kleist in schönen, schablonenhaften Bildern. Die Botschaft der vom MDR hergestellten Serie: Das Leben geht weiter.

"Es ist eine schwierige Zeit in Deutschland, die Leute sind einfach froh, wenn sie etwas Positives sehen", sagt Beatrice Kramm, geschäftsführende Gesellschafterin der Firma Polyphon, die Dr. Kleist produziert.

"Bei Dr. Kleist geht es auch um die Rückbesinnung auf traditionelle Werte, und sei es das gemeinsame Abendessen", sagt Jana Brandt, beim MDR unter anderem verantwortlich für Serien. Für Dr. Kleist sah sie eine Marktlücke: "Es gab schon lange keine klassische Familienserie mehr im Hauptabendprogramm."

Die Heilerfolge der ARD am Dienstag sind kein Einzelfall. Das Genre Arztserie existiert seit den Sechziger Jahren. Aber erst Die Schwarzwaldklinik (Start: 1985) löste den Boom aus und brachte bis zu 60 Prozent Marktanteil. Das hat eine wahre Ärzteschwemme im Fernsehen ausgelöst. Fast das gesamte medizinische Berufsspektrum ist vertreten: Bergärzte, Landärzte, Tierärzte, Frauenärzte, Kinderärzte, Flughafenärzte, Notärzte, Hubschrauberärzte.

Zielgruppennahe Dramen

Dr. Christian Kleist ist Hausarzt, was den Vorteil hat, dass er ständig zielgruppennahe Dramen erlebt. Dazu packt Autorin Christine Sadlo, eine erfolgreiche Vielschreiberin, allerhand soziale und moralische Probleme: Drogen und Sterbehilfe, ungewollte Schwangerschaft und Erziehungsprobleme - ein Konflikt, noch einer, alle Konflikte.

"Arztserien bedienen gängige Klischees", diagnostizierte das Deutsche Ärzteblatt, "Fernsehmediziner haben immer Zeit für ihre Patienten, sie sind Tag und Nacht erreichbar. Sie sind Alleskönner und Happy-End-Ärzte." Das Klischee vom sozialen, sensiblen Supermann gefällt vor allem Frauen. 28 Prozent aller Frauen, die am Dienstagabend fernsehen, schalten Dr. Kleist ein und nur 19 Prozent aller Männer.

Laut einer Untersuchung der Fachhochschule Hamburg verbinden die Zuschauerinnen mit einem Filmarzt Eigenschaften wie "attraktiv und sexy", "mit eigener Praxis oder Haus", "gut verdienend, mit Sportwagen vor der Tür", "sozial engagiert" und "Helfer in allen Notlagen". Und tatsächlich:Dr. Kleist ist allein erziehend und kümmert sich rührend um andere allein erziehende Menschen in der Stadt, vorzugsweise um die weiblichen. Da er sich als Arzt mit Brüchen auskennt, hilft er sogar, als der schwer erziehbare Sohn seiner Bekannten in einen Einbruch verwickelt ist.

Ja, Dr. Kleist bringt viel Positives. Die Serie kurbelt zum Beispiel den Papiertaschentuchverbrauch kräftig an, was der Wirtschaft zugute kommt. Ansonsten gibt es ja genügend Arztserien, die man kaum ohne Spucktüte übersteht.

Dr. Kleist ist viel netter. Seine Zuschauerinnen können dabei ruhig fettarmen Joghurts löffeln, ohne dass ihnen der Appetit vergeht. Außerdem ist das Drehbuch voller Aphorismen, die man am liebsten in Marmor meißeln würde: "Man denkt, es ist das Ende. Aber jedes Ende hat auch einen neuen Anfang." Schalten Sie also wieder ein, wenn Dr. Kleist alle Krankheiten dieser Welt mit Klischees zupflastert.

© SZ vom 12.5.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: